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Full text of "Die Kunst unserer Zeit; eine Chronik des modernen Kunstlebens"

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KUNST . 
UNSERER 

ZEIT 


EINE  CHRONIK  DES 
L/A°DERNEN   KUNSTLEBENS 


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PURCHASED  FOR  THE 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 

FROM  THE 

CANADA  COUNCIL  SPECML  GRANT 

FOR 


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HISTORY  OF  ART 


DIE 


KUNST  UNSERER  ZEIT 


DIE 


KUNST  UNSERER  ZEIT 


EINE    CHRONIK 


DBS 


AODERNEN   KUNSTLEBENS 


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o  XVI.  ° 


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MÜNCHEN 
FRANZ   HANFSTAENGL 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 


J 

Bei.  11^ 


0.  FRANZSCHE  H.  B.  HOK-BUCHDRUCKEREI  (O.  EMIL  MAYER),  MÜNCHEN 


Inhalts-Angabe 


1905.    II.  HALBBAND 


Literarischer  Teil 


F.  0.  Franz  von  Defrejjj^er.  Zu  seinem  70.  Geburts- 
tage (30.  April  1W5) 


Seite 


131 


ScUe 


Lehr,  Fran  z.  Über  die  IX.  internationale  Kunst- 
ausstellung 1905  in  München 199 

Spier,  A.    Franz  von  Lenbach  .    .    151 


Vollbilder 


Seile 

Bouguereau,  W.     Frühling 251 

Chabas,  Paul.     Bildnis  des  Fräulein  S.  M.     .  243 

Defregger,  Franz  von.  Das  letzte  Aufgebot  134 

—  Andreas  Hofers  letzter  Gang 135 

—  Das  Tischgebet 138 

—  Vor  dem  Tanz 139 

—  Die  Grünoberspieler 146 

—  Marei 147 

Echtler,  Adolf.     Agonie 227 

Fische r-Elpons,  Georg.     Hummer  ....  206 

Gaisser,  Max.     Fischer,  auf  die  Flut  wartend  230 
Giron,  Charles.     Schwingfest  im  Berner 

Oberland      231 

Hierl-Deronco,  Otto.     Medja 226 

Kaulbach,  F.  A.  von.     Geraldine  Farrar     .    .  238 

Kaulbach,  Hermann.     Maiandacht 242 

Knopf,  Hermann.     Feierabend 239 

Lenbach,    Franz  von.    Prinzregent    Luitpold 

von  Bayern 154 

—  Prinz  Ludwig  von  Bayern 155 


Lenbach,  Franz  von.     Bismarck 

~     Moltke 

—  Theodor  Mommsen 

—  Franz  Liszt      

—  Rudolf  von  Seitz 

—  Damenbildnis 

—  Lulu  Heyse 

—  Karl  von  Piloty 

—  Allegorische  Szene 

—  Josefine  Lenbach 

—  Der  Titusbogen  in  Rom  ........ 

Meyer,  Claus.     Ein  lieber  Besuch 

Schaefer,  Phil.  Otto.  Cultura  victrix  .  .  . 
Scholz,  Richard.  Hilde  und  Trudel  .  .  . 
Schönleber,  Gustav.  Brücke  in  Viareggio 
Schuster-Woldan,  Georg.  Mädchenbildnis 
Schuster-Woldan,  Raffael.     Das  Leben     . 

Seiler,  Karl.     Siegesnachricht 

Thor,  Walter.     Prinzregent  Luitpold 

von  Bayern 


Seite 

158 
159 
162 
166 
167 
174 
175 
186 
187 
194 
195 
222 
214 
223 
203 
215 
250 
207 

202 


T  e  X  t  b  i  1  d  e  r 


Seile 

Arntzenius,  Floris.     Nach  dem  Regen   .    .  213 
B  a  c  r ,  F  r  i  t  z.  Abend  im  Herbst  (Schloss  Bluten- 

burg) 237 

Blanche,  Jacques  E.    Mädchen  in  Sommer- 
toilette    249 

Bios,  Karl.     Bildnis  des  Grafen  von  Moy  .    .  215 

Bodenhausen,  Kuno  von.     Leonore   .    .    .  212 
Breitner,  George  Hendrik.  Strassenanlage 

in  Amsterdam 235 

Canal,  Gilbert  von.     Motiv  an  der  Vecht    .  225 

Ciardi,  Emma.     Die  Sänfte 238 

Defregger,   F.   von.      Franz   von    Defregger 

in  seinem  Atelier 131 

—  Die  Haserln 133 

—  Eingegangen .  135 

—  Die  neue  Armbrust 136 

—  Der  Brief 137 

—  Klatsch 139 


Seile 

Defregger,  Franz  von.  Die  jungen  Wilderer  140 

—  Plänkeln • 141 

—  Heimatlieder 142 

—  Anbetung  der  Hirten 143 

—  Die  Geschichte  vom  heil.  Nikolaus   ...  146 

—  Waldlergeschichten 149 

—  Gefährlicher  Besuch 205 

Detaille,  ßdouard.  Kavallerie -Rekognos- 
zierung       229 

Devambez,  Andr^.     Der  Angriff,  Boulevard 

Montmartre 219 

Düll,  Heinrich  und  Georg  Pezold.  Rot- 
käppchen (Bekrönungsgruppc  des  Wolfs- 
brunnens in  München) 254 

Eberle,  Adolf.    Jagdeifer 233 

Estienne.  Henry  d".     Das  erste  Schiff      .    .  224 

Franzoni.  Filippo.     Lodano,  Abend 

(Tessiner  Dorf) 236 


Seite 

Fuks,  Alexander.     Bildnis 207 

Geffcken,  Walter.     Gruppenbildnis    ....  233 

Germela,  Raimund.     Am  Strand  von  Ostende  223 

Glücklich,  Simon.     Dame  in  Weiss  ....  200 

Gorter,  Arnold  Marc.     Heideweg     ....  238 

Grässel,  Franz.     Enten 228 

Hernandes  Nagera,  Miguel.     Andalusierin  230 

Holsöe,  C.  K.     Interieur 230 

Hudler,  August.     Dengler  (Bronzierter  Gips)  252 
loanowitch,    Paul.      Bildnis   der    Frau    von 

Mierka 226 

Israels,  Jozel.     Das  stille  Mütterchen    .    .    .  243 
Kalimorgen,  Friedrich.     Sonnenglanz 

(Hamburger  Hafen) 203 

Kaulbach,  Fritz  August  von.     Einladungs- 
karte zum  Künstlerfest   1898 192 

Klein,  Philipp.     Vor  der  Abreise 211 

Klinkenberg,  Karel.     Brücke   in  Rotterdam  245 

Kraus,  Valentin.     Unsere  Erlösung    ....  254 

Kroyer,  P.  S.     Weinlese  in  Tirol 228 

Kurz,  Erwin.     Garbenbinderin   (Gipsmodell)  .  250 
Küstner,     Karl.      Vorfrühling     am     Altrhein 

(Motiv  aus  Rheinhessen) 209 

Langh  orst,  Karl.     Die  Familie  des  Künstlers  224 

La  Touche,  Gaston.     Nachtfest       242 

Laurens,     Jean     Paul.      Das     Vorzimmer 

Monseigneurs      214 

Lenbach,  Franz  von. 

Villa  Lenbach  in  München 151 

Lenbach    im    Garten    seines    Münchener 

Hauses 153 

Estrade  in  Lenbachs  Atelier 153 

Vorraum  von  Lenbachs  Atelier 154 

Festsaal  im  Lenbachhause 155 

Villa  Lenbach  in  Starnberg 198 

—  Frau  von  Lenbach 157 

—  Gabriele  Lenbach .    .  157 

—  Arthur  Schopenhauer 158 

—  Arnold  Böcklin 159 

—  Werner  von  Siemens 161 

—  Hermann  von  Helmholtz 161 

—  Rudolf  Virchow 162 

—  Gladstone  und  Döllinger 163 

—  Fürst  Hohenlohe        165 

—  Wilhelm  von  Rümann 166 

—  Adolf  Hengeler 167 

—  Georg  Proebst 168 

—  Fritz  Plank      168 

—  Frau  N 169 

—  Lilian  Sandcrson 169 

—  Königin  von  Neapel      170 

—  Frau  Hedwig  Dohm      170 

—  Der  erste  Versuch  nach  der  Natur  in  Öl  171 

—  Porträt      172 

—  Mädchenkopf   .    .        173 

—  Lenbachs  Vater 173 

—  Blinder  Mann  mit  Kind 175 

—  Dorfstrassc  (Aresing) 175 

—  Kopf  eines  Bauern 176 

—  Knecht   und  Magd   vom   Heimathofe   des 
Meisters 177 


Seile 

Lenbach,  Franz  von.     Sonnenbad     ....  178 

—  Der  rote  Schirm lyg 

—  Landleute  vor  einem  Unwetter   flüchtend  179 

—  Eselstudie igo 

—  Lenbach    und   seine   Reisegesellschaft    in 
Ägypten  (zwei  Gruppenbilder) 181 

—  Flucht  nach  Ägypten 182 

—  Arnold  Böcklin  (Jugendbildnis)      ....  185 

—  Adolf  Wilbrandt 186 

—  Alois  Hauser 187 

—  Albert  Riegner 188 

—  Gruppenbildnis  (im  Hintergrunde  Lenbach)  189 

—  Zehn  Künstlerporträts 189 

—  Fische 190 

—  Huhn 191 

—  Lorenz  Gedon |93 

—  Frau  Therese  Seidl 193 

—  Adolf  Oberländer 194 

—  König  Ludwig  I.  von  Bayern 195 

—  Robert  von  Hornstein 1% 

—  Baronin  von  Hornstein 197 

L^otard,  Alice.    Trio 235 

Loghi,  Kimon.     Athenerin 218 

Louyot,  Edmund.     Beim  Fischverkauf  .    .    .  232 

Löwith,  Wilhelm.  Neuigkeiten      239 

Martens, Willy.  BildnisderGattindes Künstlers  244 
Menzler,   Wilhelm.     Aus   sonnigen  jugend- 
tagen       204 

Meyerheim,  Paul.     Löwenpaar 234 

Moreno  Carbonero,  Jos^.   Wallfahrt   nach 

Rocio 248 

Nonnenbruch,  Max.     Traumbild 222 

Papperitz,  Georg.     Junge  Mutter   mit  Kind  221 

Petersen,  Hans  von.     Das  Wrack      ....  240 

Putz,  Leo.     Halbakt 200 

Rink,   Paul   Philip.    Hochzeit   in   Volendam  246 
Ritzberger,  Albert.     Im  kühlen  Grunde.    .  231 
Rodin,  Auguste.     Der  Denker  (Bronze)    .    .  233 
Rombaux,  Egide.     Die  Satanstöchter  (Gips- 
gruppe)      250 

Samberger,  Leo.   Bildnis  des  Dr.  Schnitzler, 

Köln 214 

Schildt,  Karl.     Holsteinische  Landschaft    .    .  247 

Schildt,  Martinus.     Waschtag 210 

Schutt,  Heinrich.     Gnomen 240 

Seh  mitzberger,  Joseph.  Morgendämmerung  242 

Schräm,  Alois  Hans.     Am  Landungssteg    .  209 

Schramm -Zittau,  Rudolf.     Hühnerhof  .    .  247 

Sinding,  Otto.     Lofoten     202 

Steelink,  Willem.     Schafmarkt  in  Holland  .  248 

Stenberg,  Emerik.  Mädchen  aus  Dalekarlien  207 

Strützel,  Otto.     Benediktenwand 199 

Stuck,  Franz.     Kämpfende  Faune  (Relief).    .  251 

Thoma-Höfele,  Karl.     Stilleben 206 

Thor,  Walter.     Damenbildnis 202 

Urban,  Hermann.     Römischer  Herbst    ...  241 

Veith,  Eduard.     Bildnis  der  Baronesse  M.    .  227 

Weise,  Robert.     Dame  in  Schwarz     .    .    .    .  216 

—  Dämmerung 217 

Ziegler,  Karl.     Bildnis  der  Frau  Stutz  .    .    .  201 


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Franz  von  Dcfregjjer  in  seinem   Atelier 


Franz  von  Defregger 

zu  SEINEM  70.  GEBURTSTAGE 
30.  APRIL  1905 

Wer  mit  einigermassen  gutem  Gedächtnis  sich  an  unser  Kunstleben  in  den  siebziger  und 
achtziger  Jahren  des  abgelaufenen  Jahrhunderts  erinnert,  der  wird  sich  vielleicht  manchmal  mit 
Staunen  fragen,  wo  alle  die  vielen  Genremaler  geblieben  sind,  die  damals,  mittelbar  oder  un- 
mittelbar aus  der  Pilotyschule  hervorgegangen,  die  Welt  in  Entzücken  versetzten.  Es  sind  für 
das  Publikum  wie  für  den  Kunstmarkt  nur  recht  wenige  in  Geltung  geblieben,  eine  grosse  Zahl  ist 
nahezu  verschollen.     Jene  aber,  die  sich  auch  heute  noch  des  alten  Ruhmes  erfreuen,  sind  just  die, 

♦)  Es  sei  das  Defrej{ger-Helt  K.  u.  Zt.  VI.  Jahrgang  Lfg.  7  in  Erinnerung  gebracht. 


XVI  20 


132  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

welche  jene  Blütezeit  der  deutschen  und  speziell  der  Münchener  Genremalerei  inauguriert  haben. 
Von  den  Nachempfindern,  die,  vom  Erfolge  ihrer  Vorbilder  verlockt,  den  beliebt  gewordenen 
Kunstzweig  als  Brotberuf  ergriffen,  sich  nun  die  Köpfe  zerbrachen  nach  anekdotischen  Sujets  und 
Bauernidyllen  h  la  Defregger,  feuchtfröhliche  Mönche  wie  Grützner,  Buschklepper  und  Lands- 
knechte wie  Wilhelm  Diez  ausklügelten  —  von  ihnen  ist  wenig  mehr  übrig.  Es  waren  recht 
geschickte  Hände  darunter  —  aber  das  macht's  eben  nicht  aus!  Wenn  die  Genremalerei  nichts 
anderes  wäre  als  ein  Brotberuf,  den  man  nach  Absolvierung  einiger  Natur-  und  Malklassen  mit 
dem  entsprechenden  Talentchen  lernen  könnte  wie  Jurisprudenz  oder  Philologie,  dann  stünde  es 
freilich  schlimm  um  sie,  dann  hätten  die  recht,  welche  heute  über  die  Achsel  auf  sie  herabsehen 
und  sie  neben  der  „rein  künstlerischen"  Malerei  geringschätzig  als  ein  Handwerk  anschauen. 
Sie  haben  aber  nicht  recht.  Der  echte  Genremaler  wird  auch  geboren,  nicht  erzogen,  es  gehören 
ganz  bestimmte  und  durchaus  nicht  häufige  Eigenschaften  dazu,  eine  ganz  besondere  Begabung, 
zu  beobachten,  zu  erfinden,  zu  charakterisieren  und  zu  komponieren,  lauter  tiefer  gehende 
menschliche  Eigenschaften,  die  nicht  beliebig  erworben  werden  können.  So  haben  sich  nun 
auch  hier  die  echten  Talente  bewährt  und  behauptet,  die  unechten,  welche  ausserdem  auch  noch 
den  ganzen  Zweig  der  Malerei  nach  Kräften  diskreditiert  und  geschädigt  haben,  sind  unter- 
gegangen. Nur  einen  kleinen  Teil  erhält  noch  das  Interesse  des  Marktes  und  die  Urteilslosigkeit 
einer  gewissen  Klasse  von  Käufern.  Wie  überall  in  dem  heissen  Existenzkampf  der  Künstler 
erweist  sich  auch  da  die  Tatsache  als  fundamentales,  ehernes  Gesetz,  dass  der,  der  sich  anders  gibt, 
als  er  ist,  selber  sein  höchstes  Künstlerrecht  preisgibt.  Im  künstlerischen  Schaffen  gibt  es  keinen 
beliebig  spielenden  freien  Willen:  der  Echte  muss!  Seine  Farben-  und  Formensprache,  die 
Stoffwahl  und  die  Technik  —  alles  dies  folgt  zwingendem,  innerem  Drange  oder  es  ist  keinen 
Pfifferling  wert.  Man  wählt  nicht  Landschaft,  Genre  oder  Historie  zum  Beruf,  wie  der  angehende 
Rechtsbeflissene  sich  je  nach  den  Aussichten  für  Gericht,  Verwaltung  oder  Anwaltstand  entscheidet. 
Von  den  ehrlichen  Künstlern  wird  der  eine  seine  ausschliessliche  Freude  an  den  Wundern  der  Natur, 
der  andere  an  der  liebenswürdigen  Schilderung  von  Menschlichkeiten  haben,  einen  dritten  reizen 
die  Probleme  des  Lichts  und  der  Farbe  an  sich,  unabhängig  vom  Stoff.  —  Recht  hat  ein  jeder 
von  ihnen,  wenn  er  etwas  mit  persönlichem  Ausdruck  zu  gestalten  weiss! 

In  der  vordersten  Reihe  —  nein,  doch  wohl  an  der  Spitze  jener  Genremaler,  die  nun  im 
dritten  und  vierten  Jahrzehnt  schon  ihren  Platz  behaupten,  steht  Franz  von  Defregger,  und  viele 
der  ungezählten  Freunde  seiner  nie  gealterten  Kunst  werden  es  nur  mit  Erstaunen  gehört  haben, 
dass  dieser  Mann  schon  siebzig  Jahre  alt  werden  soll.  Er  ist  vielleicht  der  populärste  deutsche 
Maler,  ist  es  heute  noch  und  war  es  vor  dreissig  Jahren.  Er  hat  sich  nicht  mit  der  Zeit  ver- 
ändert und  ist  doch  nicht  hinter  ihr  zurückgeblieben.  Er  hat  immer  geschaffen,  wie  er  gemusst 
hat,  sich  goldecht  gegeben,  wie  er  war,  stark,  schlicht,  treu.  Ganz  gewiss  gibt  es  keinen  zweiten 
Maler,  dessen  Kunst  so  unmittelbar  in  gesundem  Volkstum  wurzelt  —  was  Wunder  dann,  wenn 
er  der  volkstümlichste  von  allen  blieb  I  Die  gütevolle  Liebenswürdigkeit  seiner  Natur,  die  ihm 
alle  Menschen  zu  Freunden  macht,  verklärt  natürlich  auch  seine  Werke,  die,  frei  von  Süsslichkeit, 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


133 


Franz  coii  Dc/ici/i/fi:    Die  Haserln 


ebenfalls  so  herzgewinnend  liebenswürdig 
sind.  Wenn  andere  lächelnde  rosige  junge 
Mädchengesichter  malen,  wie  leicht  wird 
das  Ganze  so  widerlich,  dass  ein  Mensch 
von  Geschmack  verärgert  dem  Bilde  seinen 
Rücken  wendet!  Vor  Defreggers  Tiroler 
Mädels  hat  noch  keinen  verwandte  Em- 
pfindung angewandelt,  auch  wenn  sie  noch 
so  lenzfrisch  und  lustig  lachen !  Denn  diese 
Heiterkeit  und  Anmut  sind  der  Abglanz 
einer  sonnig  klaren  Künstlerseele  und  sind 
nie  gemacht,  sondern  wahr.  Die  erste  und 
höchste  Signatur  von  Defreggers  Kunst  ist 
eben  die  Wahrheit!  Nicht  im  Sinne  des 
„konsequenten  Naturalismus"!  Defregger 
hat  sich  ebensowenig  jemals  verpflichtet 
gefühlt,  jede  Traurigkeit,  Schmutzigkeit  und 
Hässlichkeit  des  Alltags  abzuschreiben,  als 
er  sein  Bemühen  darein  setzte,  jede  feinste 
Abschattung  des  Lichtes,  jedes  zarteste  Spiel 

der  Farbe  wiederzugeben,  in  seiner  Malweise  herrschen  noch  gerne  die  schweren  braunen  Schatten 
der  Pilotyschule,  herrscht  noch  ihre  Abneigung  gegen  die  höchste  Helligkeit,  fehlt,  ihren  Traditionen 
entsprechend,  vielfach  jenes  feine,  die  Körper  umspielende,  Härten  ausgleichende,  Harmonie 
ermittelnde  Medium  der  Luft,  das  sich  die  neuere  Malerei  gewonnen  hat.  Aber  das  ändert  nichts 
an  seiner  künstlerischen  Wahrhaftigkeit!  Gerade  weil  er  wahr  ist,  begnügt  er  sich  mit  den 
malerischen  Mitteln,  die  ihm  von  Anfang  an  vertraut  sind  und  dem  Ausdruck  seines  Empfindens 
entsprechen,  die,  einfach,  schlicht  und  herb,  wie  er  selbst  in  seiner  kernhaften  Tiroler  Bauern- 
natur, vorzüglich  geeignet  sind,  sein  Heimatvolk  so  zu  kennzeichnen,  wie  er  es  liebt  und  sieht. 
Dabei  fehlen  ihm  wahrhaftig  auch  die  rein  malerischen  Qualitäten  nicht  und  er  hat  Bilder,  nament- 
lich Charakterköpfe,  genug  gemalt,  die  neben  dem  Höchsten,  was  wir  in  Deutschland  in  dieser 
Richtung  haben,  neben  LeibI,  in  Ehren  bestehen  können.  Defreggers  seltene  Wahrhaftigkeit  zeigt 
sich  zunächst  in  der  Abwesenheit  jeder  Pose  und  jeder  Phrase  auf  seinen  Bildern.  Man  muss  sie 
neben  die  schlechte  Nachempfindung  setzen,  um  zu  erkennen,  wie  rein  und  unverzerrt  in  ihnen 
das  echte  Leben  sich  spiegelt.  Das  Recht,  sich  aus  diesem  echten  Leben  das  Freundliche  und 
Sympathische  als  Stoff  auszuwählen,  muss  man  dem  Künstler  freilich  lassen.  Wer  dies  für  sich 
in  Anspruch  nimmt,  ist  nicht  mehr  und  nicht  weniger  wahr  als  der  „Verist",  der  sein  Werk  zum 
Spiegel  des  menschlichen  Elends  macht  und  in  Spitälern,  an  Totenbetten  und  in  Bettlerhütten 
die  Vorwürfe   sucht,    durch    deren  Behandlung  er  künstlerisch  wirken  will.     Es   kommt  in    beiden 


134  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

Fällen  wieder  nur  darauf  an,   dass  jeder  wirklich  dem  Ausdruck   leiht,   was  er   sieht,   er  glaubt, 
e  r  will ! 

Auf  Defreggers  Bildern  aus  dem  Volksleben  herrscht  oft,  ja  fast  immer,  eine  stille  heitere 
Sonntagsstimmung  —  die  Grundstimmung  seiner  Natur.  Und  das  engere  Gebiet  seiner  Stoffwelt 
entspricht  dem.  Tragisches  hat  ihn  nur  selten  zum  Werke  begeistert,  Peinliches  nie.  Sein  Tiroler 
Volk  ist  reich  an  Typen,  wie  sie  das  verzweifelt  harte  Leben  in  einem  Lande  schafft,  das  sich 
den  Ertrag  des  Bodens  nur  in  mühseliger  Arbeit  entreissen  lässt.  Solcher  Typen  finden  wir 
auch  auf  seinen  Bildern  die  Menge.  Aber  meist  in  Ruhe  und  Fröhlichkeit,  nicht  in  der  mitleid- 
erweckenden Not  und  Qual  jener  Arbeit,  jeder  Kenner  des  Volkes  weiss,  dass  ein  so  unver- 
fälschter Sohn  dieses  Volkes  auch  so  empfinden  mussl  In  aller  Volkskunst  ist  Feiertägliches,  das 
Selbstverständliche  seiner  Wochentagsplagen  schreit  das  Volk  nicht  gerne  in  die  Welt  hinaus;  viel- 
leicht hängt  das  mit  einer  Art  verfeinerten  Schamgefühls  zusammen,  das  auch  bei  den  Derbsten 
oft  sehr  empfindsam  entwickelt  ist.  Und  das  Volk  konzentriert  auch  alle  seine  Bedürfnisse  nach 
Schönheit,  all  sein  Streben  nach  ihr  auf  den  Feierabend,  den  Feiertag.  Keine  Arbeit,  die  ihm 
am  Werktag  zu  gering  ist,  kein  Lumpen,  der  ihm  als  Werktagstracht  zu  schlicht  scheint,  wenn 
er  seinen  Zweck  erfüllt!  Aber  an  Feiertagen  will  es  Schönheit  und  Freude  in  seiner  Art  — 
saure  Wochen,  frohe  Feste!  Da  entwickelt  es  jene  gediegene  Pracht  der  Trachten,  vor  denen 
wir  Kulturmenschen  in  unseren  Schwalbenschwänzen  und  Seidenroben  uns  schämen  müssen,  da 
zieht  es  jene  Gewänder  an,  die  in  so  unglaublichem  Grade  Stil  haben,  Ausdruck  seines  Charakters 
sind!  Die  Tiroler  Trachten,  die  uns  Defregger  malt,  haben  diese  schöne  Eigenart  noch  kräftiger 
als  andere  aufgeprägt.  Man  nehme  nur  die  Etschtaler  Tracht  an,  deren  lachendes  Rot-Grün- 
Weiss  von  der  Heiterkeit  südlichen  Sonnenscheins  redet,  deren  knapper  kleidsamer  Zuschnitt  sich 
nur  bei  einem  Volke  ausbilden  konnte,  das  gewohnt  ist,  steile  Bergwege  zu  gehen!  Oder  die 
ernsteren  Pustertaler  und  Oberinntaler  Volkstrachten  und  wieder  andere  vom  Brenner,  deren 
uralter  Zuschnitt  verrät,  wie  wenig  in  diese  Winkel  das  Treiben  der  modernen  Welt  noch  Eingang 
gefunden,  die  lustigeren,  man  möchte  sagen  leichtherziger  aussehenden  Trachten  vom  Unterinntal 
und  anderen  Grenzgebieten  nach  Bayern  zu !  Auf  Defreggers  Bildern  können  wir  alle  diese 
Charakter-  und  stilvollen  Bauerngewänder  sehen  und  immer  stecken  die  Menschen  darin,  die  dazu 
gehören  und  immer  ist  alles  um  diese  herum  wahr  und  wirklich,  wie  das,  was  sie  treiben.  Wie 
himmelweit  verschieden  sind  diese  Gestalten  von  der  Modellmaskerade,  die  uns  so  viele  andere 
Bauernmaler  vorsetzen,  und  wie  merkwürdig  ist  es  im  Grunde,  dass  es,  so  viele  sich  bemühen, 
so  wenigen  glückt,  das  zu  erreichen,  was  einem  Defregger  immer  mühelos  gelingt!  Auch  andere 
studieren  das  Volk,  leben  die  Sommer  über  in  seiner  Mitte  und  malen  Dutzende  von  Studien 
dabei  —  aber  das  Volk  studieren  heisst  eben  noch  nicht  mit  dem  Volke  empfinden !  Was  dem 
einen  geschenkt  ist,  kann  der  andere  nicht  im  Schweisse  seines  Angesichtes  erwerben;  vor  allem 
nicht  jene  sonntäglich  freundliche  Weise,  von  der  oben  die  Rede  war.  Gerade  diejenigen,  die  am 
Bauern  nur  Derbheit  und  Rauheit,  nur  grobes  Empfinden  und  grobe  Linien  sehen,  schauen  ihn 
so   recht   mit  Städteraugen    an,   so   viel   sie   sich    auf   ihren    scharfen  Blick    zu   gute   tun    mögen. 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


I3b 


Der  Gegensatz  ihrer  eigenen  Kultur  oder  Halbkultur  trübt  ihnen  das  Urteilsvermögen.  Sie  sind 
genau  so  einseitig  wie  die  künstlerischen  Süssmaier  und  Salontiroler,  nur  nach  der  anderen  Seite 
hin.  Wer  die  Romantik  nicht  spürt,  die  unserem  Bauernvolk  im  Blute  steckt,  selbst  dem  rohesten 
Burschen   unseres   bayerischen    Flachlandes,    der    kennt   weder    das   Volk    noch     das   Wesen    der 


Fifiiiz  roll  Defrejußer.     Eingegangen 


Copyright    1P97  liy  Kr-»ii/    M.lllfMJien);! 


Romantik  —  diese    ist    nämlich    ein  Ding,    das   aus   dem    ständigen  Verkehr    mit  der  Natur  ganz 
von  selbst  und  mit  elementarer  Notwendigkeit  entsteht. 

Kein  Zweiter  sieht  so  helläugig  und  feinfühlig  wie  Defregger  alles,  was  am  Tiroler 
Bergvolk  anziehend  ist,  wie  es  sein  'Liebeswerben  poetisch  verklärt  und  wie  doch  auch  in 
diesem  wieder  ein  kerniges  vollblütiges  Wesen  lebt,  wie  es  sich  sein  Heim  behaglich  macht, 
seine  Kinder  erzieht,  wie  diese  Kinder  wieder  unter  sich  leben,  wie  es  tanzt,  singt  und 
zecht  oder  sonstwie  seine  überschüssige  Lebenskraft  austobt.  Ein  bisschen  dünner  gesät  sind 
ja  wohl  im  wirklichen  Tirol  die  schönen  Dirndeln  als  in  der  Welt  Defreggers,  aber  die 
sittliche    Forderung    der    künstlerischen    Wahrheit    verlangt    doch    wohl    nicht,    dass    der    Maler 


136 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


an  der  Hand  einer  Statistik  über  hübsch  und  hässlich  gewissenhaft  etwa  sechs  ^schiache" 
Dirndeln  hinstelle,  bis  er  sich  den  Luxus  eines  hübschen  Mädels  gestattet.  So  viel  Welt- 
verbesserer darf  —  oder  soll !  —  der  Künstler  schon  sein,  dass  er  die  beklagenswerten 
Unterlassungssünden  der  Schöpfung  nach  dieser  Richtung  so  viel  als  möglich  wieder  gut  macht ! 
Echt  —  wir  müssen  dies  eine  Wort,  wenn  von  einem  Defregger  die  Rede  ist,  ziemlich  oft 
wiederholen  —  echt  sind  die  schönen  Menschen,  die  er  malt,  wahrlich  auch  und  ihr  Typus  wieder- 
holt sich  durchaus  nicht  in  monotoner  Weise.  Im  Gegenteil,  es  ist  erstaunlich,  wie  viele 
Schattierungen  der  Rasse  und  des  Temperaments  wir  unter  seinen  hübschen  Mädeln  und  Frauen 
beobachten  können.  Noch  mehr  freilich  unter  seinen  Männern:  von  den  blonden,  sehnigen 
Germanen  bis  zu  den  wildrassigen  schwarzhaarigen  Typen  des  mit  so  viel  romanischem  Blut 
durchsetzten  Südens.  Man  wird  freilich  auch  nicht  leicht  wo  auf  der  Welt  so  mannigfach  interessante 
Charakterköpfe  sehen  wie  in  Tirol,  wo  die  Natur  des  Bodens  und  glückliche  Rassenmischung 
zusammengearbeitet  haben,  um  einen  Menschenschlag  von  erfreulichem  Stil  hervorzubringen.  Was 
die  Männer  angeht,  so  braucht  beim  Tiroler  Bauernschilderer  die  Statistik  jedenfalls  kein 
Zugeständnis   an    die  Schönheit   zu  machen,    da  ist  auch   in  der  Wirklichkeit   ein  Kopf  lebendiger 

und  ausdrucksvoller  als  der  andere. 
Und  der  Maler  liebt  es,  die  kräftig 
geschwungenen  Profile,  die  klugen 
scharfen  Augen  und  vollen  gesunden 
Lippen  seiner  Landsleute  recht  kenn- 
zeichnend zur  Geltung  zu  bringen,  und 
gelegentlich  stellt  er  sie  mit  gutmütig- 
lokalpatriotischem  Spott  in  bewussten, 
boshaften  Gegensatz  zum  Städtervolk 
—  Männer  und  Frauen !  Da  kommen 
die  Stadtleute  meist  übel  weg  und 
nehmen  sich  wie  eine  weitaus  in- 
feriore Rasse  aus  neben  den  kernhaften 
Kindern  der  Berge.  Freilich  ist  der 
Maler  dann  auch  stark  „Partei"  und 
die  Exemplare  von  Kulturmenschen, 
die  er  zur  Folie  seiner  Naturburschen 
und  Mädels  nimmt,  sind  nicht  immer 
allererster  Güte,  wie  der  „Salon- 
tiroler" oder  der  bebrillte  Assessor 
auf  dem  humorvollen  Wirtshausstück 
„Eingegangen",  oder  gar  die  Jammer- 

Fiaiix  n„i  nrfrriinrr.     Die  neue   Armbrust  gestalt    deS    „NatUrforSChcrS",     der    Buf 


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Franz  von  Defreffffer.     Der  Brief 


138  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

dem  bekannten  Bilde  der  drallen  Sennerin  einen  Trunk  aus  der  Feldflasche  kredenzt.  Auch  wenn 
er  relativ  hübsche  städtische  Weiblichkeit  in  den  ländlichen  Kreis  bringt,  wie  auf  dem  Bilde  ^Gute 
Aussicht"  mit  den  eingeregneten  Touristen,  fällt  der  Vergleich  immer  noch  mehr  zu  Gunsten  der 
bäuerischen  Schönen  aus,  deren  Erscheinung  die  zweifellos  aristokratischere  bleibt.  Übrigens  sind 
die  genannten  Bilder  Meisterstücke  Defreggerscher  Charakterisierungskunst,  einer  Kunst,  die  durch- 
aus nicht  mit  groben  Mitteln  arbeitet  und  alles  Karikaturistische  sorgsam  vermeidet.  Der  „Salon- 
tiroler" mag  in  der  Stadt  ein  ganz  flotter  Herr  sein  und  manchem  Putzmamsellchen,  das 
mindestens  so  hübsch  ist  wie  die  zwei  kichernden  Dirndln  auf  dem  Bilde,  beträchtlich  imponieren. 
Aber  das  Unechte  an  ihm,  der  Widerspruch  zwischen  Mann  und  Gewand,  der  Gegensatz  zu  der 
freien  und  unbefangenen  Art  der  Burschen,  die  zu  ihren  Kleidern  passen  und  in  ihnen  sich 
behaglich  fühlen,  macht  ihn  lächerlich  in  diesem  feinpsychologischen  Bilde.  Ganz  anders  ist  der 
Gegensatz  wieder  gewonnen  in  dem  späteren  Werk  „Eingegangen".  Hier  steht  nicht  der  Gross- 
stadtgeck der  derben  Urwüchsigkeit  der  Naturmenschen  gegenüber,  sondern  der  bleiche  Stuben- 
hocker muss  sich's  gefallen  lassen,  von  den  Bauern,  die  ja  bekanntlich  ihre  körperliche 
Überlegenheit  sehr  gerne  auch  für  eine  geistige  nehmen,  gehänselt  und  beim  Kartenspielen  herein- 
gelegt zu  werden.  Der  erwähnte  „Naturforscher"  ist  natürlich  „schon  gar  keiner"  und  die 
spöttischen  Blicke,  welche  die  Sennerin  mit  dem  stämmigen  Bergführer  wechselt,  sprechen  diese 
Meinung  genügend  deutlich  aus. 

Wenn  Defreggers  Bauerndirndln  auch  oft  „zum  Anbeissen"  appetitlich  und  bildsauber  sind, 
irgend  etwas  Maskiertes  oder  Geziertes  ist  nicht  an  ihnen,  was  wieder  sehr  stark  absticht  von  der 
meisten  sonstigen  Bauernmalerei.  Er  steckt  keine  beliebigen  Dämchen  in  Bauernröcke,  sondern 
stämmige  Töchter  des  Landes,  deren  Hände  und  kräftige  Arme  von  flottem  Zugreifen  bei  der 
Arbeit  reden,  deren  Körper  fest  und  schwer  auf  den  derben  Hüften  ruht.  Sie  sind  gerade  darum 
schön,  weil  die  ganze  Erscheinung  einheitlich  ist,  und  würde  man  sich  modische  Toiletten  um 
ihre  drallen  Figuren  denken,  sie  würden  in  ihrer  Art  als  „Dorfdamen"  ebenso  grotesk  erscheinen 
wie  jener  Berliner  in  Lederhosen  als  Salontiroler.  Das  beweist,  wie  menschlich  und  künstlerisch 
richtig  sie  gesehen  sind !  Die  anmutigsten  Mädchen,  die  der  Meister  je  verewigt  hat,  sind  wohl 
die  beiden  auf  dem  vielbewunderten  Gemälde  von  1880  „Sepps  erster  Brief",  fleischgewordener 
Frühling  in  ihrer  heiteren  Frische!  Und  wie  überzeugend  echt  sind  die  beiden  Bauernmädels  doch 
in  all  dem  Liebreiz,  den  ihnen  der  Maler  gegeben,  wie  unbefangen  und  gesund!  Wer  denkt  da 
noch  an  Modell  und  Kostüm,  an  ein  Arrangement  vor  der  Staffelei  des  Künstlers?  In  diesem  Werke 
hat  Defregger  das  Beste  festgehalten,  was  er  von  den  Frauen  seiner  Rasse  zu  sagen  wusste  und 
zugleich  vielleicht  auch  das  Beste,  was  er  als  Maler  zu  geben  hatte.  Wie  gross  die  beiden  Figuren 
in  dem  verhältnismässig  knappen  Raum  stehen,  wie  in  allem  Einzelnen  Naturtreue  und  Gefälligkeit 
verschwistert  sind,  z.  B.  in  der  Darstellung  der  vollen  kraftstrotzenden  Hände  und  Arme,  der 
Gewänder  usw. !  Wir  dürfen  gewiss  sagen,  dass  in  diesem  Bilde  Defreggers  ganzes  Wesen  seinen 
höchsten  typischen  Ausdruck  gefunden,  dass  dies  kein  Anderer  je  gemacht  hat  und  kein  Anderer 
je  machen  wird !     Man  kennt  das  schöne  Wort  Lenbachs,  der  einmal  erklärte,  das  Geheimnis  des 


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Cnpjrrighl  1999  by  Fmu  M  ' 


Franz  ton  Defregger,     Klatsch 

(OrigloalfvitUUd«  im  Br*lu«  dvr  Kauathaitdlii»|[  l>.  HrlumiMin  In  MB»«>l»Mi) 


XVI  21 


140 


DIK  KUNST  UNSERER  ZEIT 


künstlerischen  Erfolges  bestehe  darin,  dass  jeder  seine  Kraft  auf  das  konzentriere,  was  ihm  allein 

vor  allen  Anderen  gegeben  sei.     Über  seine  Türe  sollte  jeder  in  goldnen  Lettern  schreiben:    „Was 

kannst  Du,  das  kein  Anderer  kann?"     Defregger  hat,  gleich  seinem  Freunde  Lenbach,  den  er  so 

hoch  verehrte,  sein  Leben  lang  diesem  Grundsatze  getreu  gehandelt  und  nur  aus  derartiger  freier 

Beschränkung  heraus  ist  ein  solch  harmonisches  Auswachsen  einer  Persönlichkeit,  ist  das  Schaffen 

solcher  Werke  möglich,  die  rein  konzentrierte  Persönlichkeit  sind  !    Ein  fast  gleichwertiges  Seitenstück 

zu  den  obengenannten  beiden  Mädels  ist  ein  anderes,   1885  gemaltes  Bild   „Zur  Gesundheit",  eine 

Wirtshausszene.     Aus  dem  Rahmen  heraus  blicken  drei  Burschen  und  zwei  Dirndeln  dem  Beschauer 

ins  Auge  und  einer  von  den  Burschen  bringt  ihm  sein  Schöpplein  Roten  zu.    Auch  hier  ist  jener 

Zug  ins  Grosse  zu  bewundern,    die   fast  monumentale  Art,  mit  welcher  glänzend  gekennzeichnete 

Repräsentanten  eines  Volktums  da  für  immer  als  Typen  festgesetzt  sind,  wie  etwa  die  Trinker  des 

Velasquez  und  die  Gestalten  von  Frans  Hals.     Unter  den  vielen,  wohl  in  die  Hunderte  gehenden 

Einzelköpfen  von  Männern  und  Frauen  aus  Defreggers  Hand,  die  in  alle  Erdteile  verstreut  sein  mögen, 

sind  nicht  wenige,  von  denen  Ahnliches  gilt.    Nur  auf  einen  sei  hingewiesen,  auf  den  „Franzi"  von 

1881.  Ein  blonder  Bauernbursche, 

welcher,  sein  Tiroler  Pfeifchen  im 

Mundwinkel,  so  lustig  und  klugaus 

seinen  lichten  Augen  guckt,  dass 

man  ihm  auf  den  ersten  Anblick  gut 

sein  muss!   Aus  diesem  Gesicht 

lacht  der  unbesiegbare  Übermut 

dessen,  der  weiss,  dass  ihm  nichts 

geschehen  kann  und  nichts  fehlen. 

Karl   Stieler,    der   zu   vielen    der 

älteren    Bilder    Defreggers    so 

köstliche,    innig   mitempfindende 

Strophen  gedichtet  hat"*)  lässt  den 

fidelen    Gesellen    im    Schnader- 

hüpfelton  singen : 

Und  gibt's  harte  Nüssen: 
So  hart  san's  nit  g' macht, 
I  heiss  Dir  die  Nüssen 
Grad  auf,  dass  all's  kracht. 

Ja's  Leben  is  schön, 
i  hätt's  selber  nit  denkt; 
Mi  hat's  auf  die  lustige 
Seiten  hing'schlenkt! 


FraHM  VOH  Defref/ger.     Die  junfjen  Wilderer 


•)  ,Au8  der  Hütten*  und  .Von  Dahotm*. 
In  Bildern  von  F.  Defregger,  Dichtungen  von 
Karl  Stieler. 
München.  Frana;  Hantstaengis  Kunstverlag. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


141 


So  ein  Kerl  ist  der  Franzi  —  man  glaubt's  dem  Dichter  aufs  Wort!  Das  ist  nur  einer  von 
den  Defreggerschen  Charakterköpfen,  deren  Bedeutung  weit  über  den  Wert  eines  flotten  Studien- 
bildnisses hinausgeht.  Er  hat  ihrer  in  der  gleichen  schlichten  und  festen  Art  noch  gar  viele  auf 
die  Leinwand  gebracht,  lachende  und  finstere,  gesunde  und  kraftvolle,   verschmitzte  und  traurige, 


.'opirHtcht  1901;  by  Franz  Manteaenifl 


Frattz  von  Defn-yyvr.     Plänkeln 

(OrlgtimlgemftUtf  im  Kealtxo  <ler  Mol-Kuu<itliau-lliii)|c    A.    KU-^iifr  io  Mnncliriil 


wie  auch  in  seinen  weiblichen  Köpfen  die  ganze  Stufenleiter  menschlicher  Charaktere  ihre  Vertreterinnen 
hat,  von  der  herbtrutzigen  Bauernwalküre  bis  zum  durchtriebenen  Schlankel  oder  der  treuherzigen 
Schelmin,  wie  die  „Marei"  eine  sein  mag  in  unserem  Bilde.  Vielleicht  sind  die  Vorbilder 
dieser  Charakterstudien  gar  nicht  alle  aus  den  Bergen  und  hin  und  wieder  haben  sicher  die 
Züge  eines  Grossstadtmodells  die  Grundlage  für  solch  ein  Menschenbild  abgegeben.  Aber  der 
Maler  hat  ihnen  dann  immer  aus  Eigenem  die  Merkmale  jenes  Menschenstammes  aufgeprägt,  den 
er,  um  ein  volkstümliches  Bild  zu  brauchen,  kennt,  wie  seine  Hosentasche!  Seine  Wahrheit  heisst 
ja  nicht  Abschreiben,  sondern  wahr  Gestalten,  wie  schon  gesagt  wurde! 

So    macht  es  Defregger   auch   als  Erzähler   und    man   glaubt   ihm  immer.     Im  Leben  sind 
die  Idyllen   seltener  als  die  stimmungslosen  Momente,  und  im  Bauernleben  erst  recht!     Aber  die 


142 


D\K  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Idyllen,  die  er  uns  vorführt,  wirken  immer  packend  durch  ihre  innere  Wahrheit,  durch  die  ruhevolle 
Schlichtheit  des  grossen  Wurfes,  der  keine  Theatralik  kennt,  und  durch  die  vielen  kleinen  unauf- 
dringlichen und  doch  so  beredten  Züge  echten  Lebens,  die  aus  allen  Details  von  Typus,  Kleidung 
und  Haltung  der  Figuren,  aus  allen  stummen  Nebendingen  zu  uns  reden.     Auf  die  Haltung  mag 

ganz  besonders  hingewiesen  sein! 
Gerade  das  gehört  zu  dem  Unerlern- 
baren, was  Defregger  als  Schilderer 
des  Volkes  vor  allen  Anderen  voraus, 
was  er  eben  eingeboren  im  Blute 
hat.  Die  kraftvolle  Gemessenheit  und 
plastische  Ruhe,  die  alle  Bewegungen 
des  straffen  Naturmenschen  auszeichnet, 
die  so  oft  was  von  feierlicher  Würde 
hat  —  wie  kennt  er  die  so  gut!  Wir 
Stadtleute  hasten  und  zappeln  im 
Grunde  immer  —  der  Bauer  tritt  sicher 
auf,  steht  fest,  sitzt  mit  bewusstem 
Behagen,  den  selteneren  Augenblick 
körperlicher  Ruhe  voll  ausgeniessend. 
Alle  Defreggerschen  Figuren  stehen 
auch  so  fest  und  solide  auf  ihren 
Füssen,  wenn  nicht  gerade  einer,  wie 
der  blonde  Loder  in  der  „Ankunft  auf 
dem  Tanzboden"  vor  Vergnügen  zu 
einem  Luftsprung  ansetzt.  Wie  vor- 
nehm und  lässig  zugleich  treten  die 
Paare  „Vor  dem  Tanze"  an  (siehe  die 
Abbildung)!  Der  Bursche  hat  freilich 
die  Linke  höchst  ungebildet  in  der  Hosentasche  —  und  doch  würde,  auch  was  Vornehmheit 
des  Auftretens  angeht,  kein  Vortänzer  eines  Hofballs  neben  ihm  besonders  gute  Figur  machen. 
Eine  Reihe  solcher  Tanzbodenbilder  ist  von  Defreggers  Staffelei  gekommen,  das  früheste  und 
populärste  vor  mehr  als  dreissig  Jahren:  „Der  Ball  auf  der  Alm".  In  allen  Techniken  der  Welt, 
ist  dies  Werk  vervielfältigt,  in  Holzschnitzerei  und  Galvanoplastik  umgesetzt  kann  man  es  sehen, 
im  Süden  und  Norden  schmückt  es  in  allen  Gestalten  die  Wände  fröhlicher  Menschenkinder 
als  Andenken  an  Tirol.  Die  Figur  des  Alten,  der  mit  seinen  steif  gewordenen  Gliedern  zum 
Gaudium  der  Versammlung  einen  Schuhplattler  mit  einer  lebfrischen  Dirne  wagt,  ist  köstlichstes, 
unmittelbares  Leben  und  die  Gestalt  seiner  lustigen  Partnerin  ebenso.  Einen  weiteren  Ball 
auf   der   Alm    behandelt    nicht    minder   urwüchsig    „Der   Winkeltanz"    von    1892.      Auf   die   Alm 


lit    t<f<-,   hy   l'r.iii/   llaitfstarngl 


Franz  voti  Defregger.    Heimatlieder 


144  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

führt  uns  der  Maler  überhaupt  gern  in  seinen  Bildern  und  viele  von  deren  besten  spielen 
da  droben,  wo  es  keine  Sünde  gibt  und  die  Unbefangenheit  und  Freiheit  eines  schönen  Ausnahme- 
zustands, die  innige  Nachbarschaft  mit  der  grossen  Bergnatur  die  Menschen  heiter  und  liebens- 
würdig macht.  Da  ist  eins  der  frischesten  und  feinsten  Stücke  das  Bild  „Holzknechte  in  der 
Sennhütte"  von  1880,  das  eine  stämmige  lachende  Dirne  im  Kreuzfeuer  der  Blicke  und  Galanterien 
von  vier  Holzknechten  zeigt,  da  ist  der  „Abschied  der  Jäger  von  der  Sennerin",  bei  dem  auch 
wieder  ein  weisshaariger  Schwerenöter  wie  beim  „Ball  auf  der  Alm"  die  gelungene  Hauptfigur 
abgibt.  Ein  andermal  kehren  zwischen  den  Holzern  und  Jägern  Malersleute  bei  der  schmucken 
Sennerin  ein  und  es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  Meister  Defregger  hier  wieder  den  „Parteimann" 
hervorkehrt:  die  Maler  machen  dann  nämlich  neben  den  Autochthonen  durchaus  nicht  so  schlechte 
Figur,  wie  sonst  die  Stadtleute  auf  des  Meisters  Bildern,  sondern  sie  sehen  stattlich  und  sympathisch 
aus  und  werden  von  der  Schönen  auf  der  Alm  mit  freundlicher  Zuvorkommenheit  behandelt. 
Hier  steckt  das  Mädel  dem  einen  ein  Sträusschen  auf  den  Hut,  dort  tut  sie  dem  andern 
„g'schamig"  aus  der  Feldflasche  Bescheid  und  auch  auf  dem  Bild  „Die  erste  Studienreise"  scheinen 
die  beiden  blutjungen  Akademiker,  welche  mit  ein  paar  gleich  jungen  Mädeln  halb  keck,  halb 
verlegen  anbandeln,  durchaus  nicht  mit  Abneigung  empfangen  zu  werden.  Die  Perle  in  dieser 
stattlichen  Reihe  Defreggerscher  Almenidylle  ist  wohl  das  von  1875  mit  dem  Zither  spielenden 
Jäger  und  den  zwei  zuhörenden  Dirndeln,  ein  Bild,  das  in  seiner  einfach  natürlichen  Komposition 
die  ganze  Sennhüttenpoesie  in  nuce  enthält,  kräftig,  gefällig  und  knapp,  wie  eins  der  Schnadahüpfeln 
des  jungen  Jägers!  Es  ist  so  recht  bezeichnend  für  Defreggers  ganze  Art  im  erzählenden  Bilde, 
für  sein  taktvolles  Vermeiden  jener  Gesprächigkeit  und  Witzigkeit,  welche  uns  so  oft  die  Genre- 
malerei unausstehlich  macht  und  uns  statt  einer  allgemein  menschlich  interessierenden  Zustands- 
schilderung  eine  mit  breitem  Behagen  erzählte  Anekdote  vorsetzt.  Dieser  Vorzug  Defreggers 
hängt  eben  auch  mit  der  schlichten  Wahrhaftigkeit  seiner  Natur  zusammen.  Das  Alltägliche  macht 
ihn  nicht  klein,  wenn  er  es  schildert,  sondern  er  gewinnt  dem  Alltäglichen  seine  bleibende  Bedeutung 
ab.  Gerade  darum  steht  er  als  Genremaler  so  hoch.  Auch  wo  er  eine  Erzählung  mit  vielen 
Details  und  mit  Aufwand  der  psychologischen  Beobachtung  gibt,  bleibt  die  Hauptsache  in  seinem 
Bilde  das  Kunstwerk  und  nicht  die  Erzählung,  ist's  ihm  nicht  um  den  kleinen  Moment,  sondern 
um  das  Ganze  zu  tun,  schildert  er  nicht  eine  beliebige  Familienszene,  sondern  doch  wieder  ein 
Volk,  wie  das  auch  Vautier  in  seinen  besten  Werken  getan  hat.  Eine  ganze  Menge  von  Bildern 
liefert  hiefür  die  Belege.  Zum  Beispiel  die  klassische  „Brautwerbung"  von  1877.  Wie  spürt 
man  da  den  Sonntag  im  Bilde,  die  Atmosphäre  bäuerlicher  Vornehmheit  in  einem  gutbegründeten 
Tiroler  Haushalt  I  Die  mit  unbefangener  Ruhe  den  Werber  und  dessen  dämlichen  Sohn 
musternde  Hausmutter,  hinter  deren  breiter  Front  sich  kichernd  die  begehrte  Jungfrau  verbirgt, 
ist  ein  Muster  matronenhafter  Würde  und  der  pfiffige  alte  Bauer,  der  sich  bemüht,  durch  joviale 
Liebenswürdigkeit  den  bedenklichen  Eindruck  auszugleichen,  den  sein  Tollpatsch  von  Sprössling 
macht,  ist  keine  weniger  echte  Gestalt  aus  dem  Volke.  Bis  ins  Kleinste  von  Gerät  und  Kleidern 
ist  diese  meisterlich  gemalte  Arbeit   auch  ein  bedeutsames  Kulturbild.    Mehr  allgemein  menschlich 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT  145 

genommen  ist  das  Motiv  in  einem  späteren  Brautwerbungsbild,  welches  die  Szene  nach  der  er- 
folgten Ablehnung  durch  das  trutzige  Mädel  darstellt.  Hier  sind's  kleine  Leute,  welche  ihrem  Kinde 
zureden  zu  einer  vorteilhaften  Partie  —  sie  aber  mag  halt  nicht!  Auf  diesem  Bilde  ist  ein  Kopf 
—  die  Mutter  des  abgewiesenen  Freiers  —  der  als  besonders  schlagende  Probe  von  Defreggers 
seltener  Kunst  gelten  darf,  ein  Menschengesicht  ohne  jede  Grimasse  und  doch  so  verblüffend  wahr 
als  Spiegel  einer  bestimmten  Empfindung  darzustellen.  Wie  hart  und  böse  der  Ausdruck,  wie 
stechend  der  Blick  der  entrüsteten  Mutter,  die  nicht  begreifen  kann,  dass  eine  das  Glück  aus- 
schlagen konnte,  ihre  Schwiegertochter  zu  werden !  Diese  Fähigkeit  zu  charakterisieren,  geht, 
nebenbei  gesagt,  gegenwärtig  in  betrüblichem  Grade  verloren  und  die  Schule,  die  sich  als  die 
ausschliesslich  moderne  erklärt,  tut  unrecht  daran,  solche  Kunst  gering  zu  schätzen.  Auf  ihr  ruht 
zum  guten  Teile  die  innere  Berechtigung  des  Genrebildes,  und  da,  wo  sie  fehlt,  nicht  da,  wo  sie 
mit  Können  und  Geschmack  geübt  wird,  verlässt  die  Genremalerei  nur  zu  leicht  das  Gebiet  des 
Künstlerischen.  Die  tolle  Meinung,  dass  der  Maler  kein  Recht  habe,  seine  Gestalten  etwas  sagen 
zu  lassen  und  selbst  durch  sie  etwas  zu  sagen,  wird  bald  abgehaust  haben  und  man  wird  viel- 
leicht eines  schönen  Tages  bei  einem  Allerneuesten  eine  Fähigkeit  mit  lautem  Geschrei  wieder 
„entdecken",  die  man  bei  unseren  trefflichen  Alten  „vornehm  ignoriert"  hat.  Zu  Defreggers  best- 
charakterisierten Menschengesichtern  gehört  der  bleiche,  schwarzbärtige  Wilderer,  der  vor  ein 
paar  Jahren  auch  durch  sein  ungewohntes  Format  und  das  Fehlen  alles  erzählenden  Beiwerks 
Aufsehen  erregte,  gehören  die  Köpfe  des  streitenden  Liebespaares  im  Dorfwirtshaus  (1899).  Kann 
man  die  Mischung  von  Trotz  und  Schuldbewusstsein,  wie  sie  aus  dem  einen,  von  flammender  Wut 
und  Liebe,  wie  sie  aus  dem  anderen  der  beiden  Gesichter  spricht,  treffender  zeichnen?  In  der 
Gestalt  dieses  breitschulterigen  Burschen,  dem  der  kampfbereite  Zorn  jede  Sehne  seines  Leibes 
spannt,  lebt  was  von  elementarer  Naturkraft. 

Die  Mehrzahl  der  Defreggerschen  Lebensschilderungen  ist,  wie  gesagt,  freundlicher  Art.  und 
mit  unendlicher  Liebe  verherrlicht  er  besonders  das  friedliche  Leben  der  Familie,  das  Glück 
von  Eltern  und  Kindern.  Eins  seiner  frühen  Bilder  (von  1875)  heisst  „Der  Besuch".  Bei  der 
jungen  Bäuerin,  die  ihren  Erstgeborenen  auf  dem  Arm  trägt,  sind  ein  paar  Bäschen  oder  Schwestern 
eingekehrt,  welche  das  Wunderkind  bestaunen.  Der  glückliche  Vater  steht  stolz  und  strahlend 
daneben.  Ein  andermal  kommt  der  Vater  von  der  Jagd  nach  Hause  und  die  Mutter  trägt  ihm 
das  Kleinste  mit  seligem  Lachen  entgegen.  Dann  sitzt  wieder  die  junge  Mutter  mit  dem  Liebling 
scherzend  neben  der  Wiege,  es  werden  Geschichten  erzählt  im  Familienkreise,  die  Zither  wird 
hervorgesucht,  Spielzeug  wird  geschnitzt  oder  ausgebessert,  die  Suppe  wird  ausgeteilt,  das 
Tischgebet  gesprochen,  harmloses  Kartenspiel  und  andere  Kurzweil  mit  den  Kleinen  getrieben. 
Man  weiss,  wie  das  Volk  seine  Kinder  liebt,  wie  es  oft  in  dieser  Liebe  alles  Weiche  und  Gute, 
was  in  ihm  lebt,  erschöpft,  wie  den  Geplagtesten  doch  für  die  Kinder  keine  Plage  zu  gross  und 
zu  opfervoll  ist.  Und  das  kommt  in  vielen  Werken  Defreggers  gar  liebenswürdig  zum  Ausdruck. 
Ein  Lieblingsmotiv  ist  ihm  auch  die  Heimkehr  des  grossen  Sohnes,  der  beim  Militär  —  als  Tiroler 
bei  den  Kaiserjägern!  —  dient,  im  Urlaub,  die  Einkehr  lustiger  Basen  und  Freundinnen  am  Feiertag. 


146 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Wo  die  Menschen  gut  sind  und  sich  gern  haben,  beobachtet  er  sie  am  liebsten.  Auch  aus  seinem 
eigenen  Heim  hat  der  Künstler  eine  ganze  Serie  von  Kinderbildnissen  gemalt,  die  man  zu 
dem  Liebenswürdigsten,  was  er  geschaffen  hat,  zählen  darf  und  welche  diese  Eigenschaft  doppelt 
haben   wegen    der   rührenden  Anspruchslosigkeit,  mit  der  sie   gegeben    sind.     So    malte   er    1879 


Franz  loii  /Je/iff/i/ci.     Die  Ucschichte  vom  lieil.  Nikolaus 


seinen  Sohn  als  etwa  sechsjährigen  Jungen,  wie  er  in  ganz  echter  Tiroler  Tracht,  die  Linke  in  die 
Tasche  des  Lederhöschens  gesteckt,  vor  der  Türe  einer  Almhütte  steht.  Im  Hintergrunde  sieht  ein 
bausbäckiges  Kleineres  aus  dem  Hüttendunkel  heraus.  Dann  reitet  wieder  einer  der  Jungen  auf 
einem  rohgezimmerten  Holzpferdchen,  oder  er  ist  in  seiner  Münchener  Kinderstube  dargestellt  mit 
Peitsche  und  Wagen  oder  im  Schlafe  belauscht.  Einmal  hat  Defregger  in  einem  lebensgrossen 
Kinderköpfchen  auch  eines  seiner  Meisterwerke  geliefert,  das  in  einer  Münchener  Ausstellung  mitten 
unter  den  interessantesten  Werken  von  Künstlern  aller  Länder  allgemeine  Bewunderung  hervorrief 
wegen  malerischer  Feinheiten,  wie  sie  auch  Defregger  noch  selten  gab.  Nicht  wenige  Bilder  zeigen 
Kinder  unter  sich.    Voll  reizender  DrAlerie  ist  „Das  Spielzeug"  (1881):  drei  Kinder,  die  es  mit  einem 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT  147 

primitiv  geschnitzten  hölzernen  Storch  zu  tun  haben,  und  „Der  junge  Hund",  der  einen  armen 
kleinen  Buben  in  elender  Hütte  stillvergnügt  mit  einem  undefinierbaren  Köterchen  spielend 
zeigt,  oder  „Der  kranke  Dackel" :  vier  Geschwister  fahren  den  offenbar  schwer  erkrankten  vier- 
beinigen Freund  in  ihrem  kleinen  Spielwagen  zum  Viehdoktor.  Unter  den  Bildern  dieses  Heftes 
gehören  „Die  Haserln",  „Die  neue  Armbrust"  und  „Die  Geschichte  vom  heiligen  Nikolaus"  in 
diese  anziehende  Kategorie  und  Proben  solcher  Art  durften  hier  nicht  fehlen.  Wie  einer  zu  den 
Kindern  steht,  das  ist  unendlich  belangreich  für  die  Frage,  wie  er  als  Mensch  empfindet,  und  die 
Antwort  lautet  bei  Franz  Defregger  sympathisch  genug  I  Er  sieht  an  den  Menschen  in  jeder 
Form  und  Entwicklungsstufe  das  Gute,  wie  es  freilich  bei  einem  Mann,  dessen  kindliche  Freund- 
lichkeit und  Herzenswärme  so  allgemein  bekannt,  nicht  anders  zu  erwarten  ist.  Neben  der 
Wahrheit  ist  Güte  die  markanteste  Eigenschaft  dieses  Mannes,  dessen  Kunst  so  ausschliess- 
lich da  ist  zu  erfreuen  und  zu  erheben.  Übrigens  ist  der  tiefe  Einblick  in  die  Kinderseele  seitens 
eines  Malers,  der  das  Volk  in  seinen  innersten  Regungen  genau  und  scharf  beobachtet  hat, 
fast  selbstverständlich.  Volk  und  Kind  —  das  deckt  sich  in  seinem  Wesen  ja  merkwürdig!  Ganz 
besonders,  wo  es  sich  um  freundliche  Veranlassungen,  um  Spiel  und  Fröhlichsein  handelt!  Die 
Kleinen  machen  die  Grossen  nach  und  die  Grossen  werden  in  Spieleifer  und  Lustbarkeit,  in  ihrer 
Feierabendstimmung  wie  die  Kleinen.  Dieses  harmlose  Fröhlichsein  des  Volkes  unter  sich  hat 
Defregger  den  Anlass  zu  ungezählten  Bildern  gegeben,  die  teils  am  Sonntag  in  der  Stube  oder 
im  Wirtshaus,  teils  am  Abend  auf  der  Bank  vor  der  Haustüre  spielen,  oder  sonstwo,  wo  man 
zusammenkommt  zum  Plaudern,  Necken  und  wohl  auch  zum  Liebeln.  Von  den  Tanzbodenbildern 
war  schon  die  Rede.  Im  Jahre  1888  brachte  der  Maler  solch  ein  besonders  ansprechendes  Feier- 
abendstück heraus,  das  er  später  noch  einmal  variiert  hat;  es  heisst  auch  „Feierabend"  :  vor  und 
in  einer  primitiven,  halboffenen  Hütte,  wie  sie  hier  und  dort  für  Almarbeiter  als  Küche  und 
Schutzdach  aufgeschlagen  wird,  sitzen,  liegen  und  stehen  Burschen  und  Mädel  und  hören,  während 
eine  Alte  den  Sterz  fertig  kocht,  den  Schnurren  eines  alten  Jägers  zu.  Man  sieht  es  ihnen  an, 
wie  wohl  einem  jeden  nach  der  Arbeit  die  Rast  tut,  in  jedem  Körper  ist  Ruhe  und  das  Behagen  der 
Ermüdung  ausgedrückt !  In  der  zweiten  Variante  des  Bildes  lauschen  die  ausruhenden  Arbeiter 
mit  den  Mienen  aufmerksamen  Staunens  einem  Vortrag  des  „Dorfgenies",  eines  halbwüchsigen 
Buben,  der  die  Harmonika  spielt.  Zwei  prachtvolle  ältere  Bilder,  in  welchen  der  Meister  das 
Volk  bei  solchen  Äusserungen  überschüssiger  Kraft  beobachtet,  die  der  Kulturmensch  Sport 
nennt,  sind  „Ringkampf  in  Tirol"  und  „Die  Faustschieber".  Das  erstere,  mit  vielen  Figuren, 
ist  in  seinem  Halbdunkel  überraschend  malerisch  behandelt  und  die  zwei  sehnigen  Gestalten  der 
Burschen,  welche  eben  daran  sind,  sich  zum  Ringkampf  zu  packen,  sind  voll  lodernden  inneren 
Lebens.  Aber  auch  unter  den  dritthalb  Dutzend  Zuschauern,  welche  voll  Interesse  dem  aufregenden 
Kampfe  folgen.  Alten  und  jungen,  ist  nicht  eine  Figur,  die  nichts  sagte,  und  das  Ganze  wurde  so 
zu  einem  wertvollen  Kulturbild,  einem  menschlichen  Dokument,  das  seine  Ehrfurcht  verlangt,  wie 
jede  Äusserung  gesunder  Volkskraft.  Geschlossener  komponiert,  weniger  figurenreich  sind  die 
1878  gemalten   ..Faustschieber".     Ein  Bauer  und  ein  ländlicher  Handwerksmann,  wohl  der  Schmied 

XVI  22 


148  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

des  Dorfes,  wetteifern  im  Wirtsliaus,  wer  mit  seiner  Faust  die  Faust  des  Gegners  von  der  Tisch- 
platte herunterschieben  könne.  Eine  kleine  Korona  von  Zuschauern  und  Zuschauerinnen  sieht  zu, 
scheint  hier  aber,  dem  friedlicheren  Wesen  dieses  Wettstreites  entsprechend,  weniger  erregt,  als 
dort  die  Zuschauer  des  Ringkampfes  sind,  in  seiner  Raumökonomie  ist  das  Bild  ebenso  bewun- 
dernswert wie  in  seinen  Typen.  Vor  wenigen  Jahren  (1898)  war  „Die  Kraftprobe"  im  Münchener 
Glaspalast  ausgestellt,  eine  Gruppe  wetteifernder  Dorfathleten,  die  ihre  Muskelstärke  im  Heben 
eines  schweren  Steines  messen.  Prachtvolle  Kerle  alle  miteinander,  von  dem  herkulischen  Burschen 
an,  der  eben  den  Stein  lupft,  bis  zu  den  mehr  und  minder  interessierten  Zuschauern. 
Auch  hier,  wie  in  allen  Defreggerschen  Massenszenen,  keine  Figur,  die  ganz  gleichgültig  wäre. 
Der  Maler  hat  so  viele  und  mannigfaltige  Exemplare  vom  Ebenbild  Gottes  und  dessen  spezieller 
Tiroler  Spielart  in  seinen  Mappen  wie  im  Gemerk,  dass  es  ihm  nicht  schwer  wird,  auch  im 
grössten  Menschengewimmel  jedem  sein  Stück  persönlicher  Charakteristik  mitzugeben.  Das  zeigte 
er  schon  in  seinen  früheren  Bildern,  wie  in  der  lebenswahren  Dorfszene  „Das  Preispferd"  von  IÖ73, 
und  man  beobachtet  es  noch  an  späten  Werken,  wie  der  figurenreichen,  1901  gemalten 
„Wallfahrt."  Die  grösste  Kunst  aber,  Massen  aufzubieten  und  dabei  die  Einzelnen  meisterhaft  zu 
kennzeichnen,  bewies  der  Meister  in  der  berühmten  Reihe  hervorragender  Bilder,  deren  Motive 
dem  Tiroler  Aufstand  von   1809  entnommen  sind. 

Die  Geschichtsmalerei  Defreggers  steht  in  starkem  Gegensatze  zu  der  meisten  sonst  üblichen 
„Historie".  Wie  seine  ganze  übrige  Darstellung  ist  sie  aus  echtem  Volkstum  herausgewachsen, 
leidenschaftliches  Lieben  und  Hassen  glüht  in  ihr,  jede  Gestalt  ist  ein  lebendiger  Mensch  und 
irgend  ein  lebendiger  Mensch  hat  auch  für  sie  zum  Vorbild  gedient.  Die  Erinnerung  an  die 
Kämpfe  um  die  Freiheit  Tirols  ist  noch  heute  mit  dem  ganzen  Denken  und  Trachten  des  Volkes 
verwoben,  noch  wandeln  die  Enkel  jener  Helden  unter  den  Lebendigen.  So  ist  es  unmittelbare 
Wirklichkeit,  was  uns  Defregger  zu  geben  hat,  während  der  Historiker  sonst  mit  kühlster  Objek- 
tivität seinem  Stoffe  gegenübersteht,  seine  Gestalten  auf  Grund  von  Urkunden  konstruieren,  seine 
Requisiten  aus  Rumpelkammern  zusammensuchen  und  seine  Empfindungen  nach  dem  Wunsche  des 
Auftraggebers  modeln  muss.  Gerade  die  stärksten  Temperamentsäusserungen  Defreggers  haben 
wir  in  etlichen  seiner  Historienbilder  vor  uns,  während  sonst  die  Werke  der  grossen  Historie 
meistens  im  Banne  des  Zwanges  oder  doch  einer  bestimmten,  oft  ausserhalb  der  Kunst  liegenden 
Absicht  entstehen.  Und  diese  besten  Historienbilder  Defreggers  liegen  in  derselben  Linie  wie  seine 
übrigen  Werke,  sind  eigentlich  nur  der  gesteigerte  Ausdruck  der  Vorzüge  und  Eigentümlichkeiten, 
welche  diese  auszeichnen.  Alles  Offizielle  und  Akademische  fehlt  ihnen.  Unter  den  Werken 
unserer  allergrössten  Meister,  einen  Menzel  vielleicht  ausgenommen,  lassen  die  eigentlichen  Historien- 
bilder unser  Herz  am  kältesten,  ein  fremdes  Element  ist  dazwischen.  Defreggers  „Letztes  Aufgebot" 
und  „Heimkehr  der  Sieger"  packen  uns  noch  mehr  als  alles  andere,  was  er  gemalt.  Als  er  sie 
schuf,  ist  er  womöglich  mit  noch  heisserem  Herzen  bei  der  Sache  gewesen.  Was  steckt  da  alles 
drinnen  an  Erlebnis  und  an  Gedanken !  Man  möchte  sie  analysieren,  wie  Lichtenberg  seinen 
Hogarth  analysiert  hat,  und  würde  ein  Epos  aus  jedem  Bilde  machen.    Von  jener  heimkehrenden 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


149 


Friiiiz  iiiH  hefreiiycr.     VValdlergeschiclUen 

Sieger  Gesichtern  erzählt  jedes  wieder  von  anderen  Taten  und  Gefühlen.  Dem  jauchzenden  und 
tanzenden  Fahnenträger  war  die  ganze  Geschichte  ein  Spass;  er  liess  seine  Büchse  auf  die 
Franzosen  und  Bayern  knallen,  wie  vordem  auf  Hirsche  und  Gamseln,  und  bringt  seine  Sieges- 
freude nach  Hause,  wie  sonst  wohl  einen  Becher  vom  Schützenfest.  Des  prächtigen  Gesellen 
Gesicht,  der  die  Schar  als  Hauptmann  führt,  ist  finster  und  hart.  Ahnt  er,  wie  kurz  der  Jubel 
dauern  wird,  oder  ist  ihm  die  Freude  am  Sieg  in  Blut  und  Grausen  erstickt  worden?  Starr  und 
stumpf  und  müde  stapft  der  Trommler  nebenher.  —  Jeder  ein  anderer  I  Und  jeder  fesselt  uns 
irgendwie!  Ebenso  im  „Letzen  Aufgebot".  Der  Anblick  dieser  Schar  ausziehender  Greise  ergreift 
viel  tiefer  als  alle  gemalten,  blutigen  Schlachtengreuel.  Das  sind  die  letzten,  die  das  Volk  her- 
zugeben hat  fürs  Vaterland  .... 

„Sie  san  wie'r  a  Wald 

Voll  verwetterte  Baam, 

So  ziahg'ns  dahin  —  — 

Da  kimmt  Koaner  mehr  hoam!" 


So    singt    Karl  Stieler    zu    des  Freundes  Bild.  —  Ein    prächtiges    Stück    Leben,    auch    ohne    die 
historische  Beziehung,  ist  das  schon   1869  gemalte   allererste  der  Defreggerschen  Geschichtsbilder 


150  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

„Speckbacher  und  sein  Sohn  Anderl"  mit  der  besonders  anziehenden  lebenswahren  Gruppe  des 
schmunzelnden  alten  Gebirgsschützen,  welcher  den  zwölfjährigen  Heldenjungen  zu  dessen  Vater 
bringt.  In  allen  diesen  Bildern  brauchte  der  Maler  seine  Leute  in  kein  fremdes  Gewand  zu  kleiden, 
in  keine  feierliche  Pose  zu  bringen  —  er  schilderte  einfach  Menschen  von  gleichem  Fleisch  und 
Blut,  wie  es  die  Gestalten  seiner  Tanzboden-  und  Almbilder  haben.  So  blieben  sie  ihm  vertraut 
und  den  anderen  lebendig.  Bei  der  Schöpfung  seiner  Andreas  Hofer- Bilder  „Hofer  in  der  Hofburg 
zu  Innsbruck"  und  „Andreas  Hofers  letzter  Gang"  musste  er  schon  mehr  zu  den  Mitteln  der 
Geschichtsmalerei  greifen,  unmittelbar  aus  dem  Leben  schöpfen  Hessen  sich  diese  Stoffe  nicht  mehr. 
So  kam  in  das  letztere  Bild  doch  etwas  von  Pathos  und  schöner  Gebärde  hinein,  wenn  auch  in 
der  Ausführung  jede  Linie  von  der  markigen  Kraft  und  dem  reinen  Willen  des  Meisters  zeugt. 
Der  „Hofer  in  Innsbruck"  ist  schon  wieder  viel  frischer,  natürlicher  und  farbiger;  wenn  auch 
nicht  die  Situation  —  die  Menschen  dieses  Bildes  sind  eben  gesehen!  So  ist  es  auch  mit 
„Speckbachers  Aufruf",  dem  „Kriegsrat  1809"  und  jener  kraftvoll  konzipierten  Szene  in  der 
Bergschmiede  „Vor  dem  Aufstande  1809".  Das  waren  durchweg  Aufgaben,  die  Defreggers 
redlichem  Wirklichkeitssinn  entsprachen,  einem  Gefühl,  das  er  betätigen  können  muss,  wenn  er 
frei  und  aus  dem  Vollen  schaffen  soll.  Es  war  sicher  ein  Unrecht  gegen  seinen  Genius,  als  ihm 
der  Auftrag  wurde,  die  Tat  eines  unwirklichen,  phantasiegeborenen  oder  jedenfalls  doch  mit  nebel- 
haftem Mythus  umkleideten  Helden  wie  des  Schmiedes  von  Kochel  für  die  Münchener  Neue  Pinakothek 
zu  verherrlichen.  Den  Hofer  kannte  der  Tiroler  Meister,  als  hätte  er  ihn  von  Angesicht  geschaut, 
und  auf  seinen  Bildern  ist  jener  eine  lebenswarme  Gestalt.  Der  sagenhafte  Hüne,  Schmied  Balthes, 
hat  auch  auf  Defreggers  Bild  etwas  Abstraktes,  etwas  Gewaltsames.  Das  Ist  wohl  kein  Tadel, 
vielmehr  dient  es  wieder  dazu,  die  lautere  Ganzheit  und  Wahrhaftigkeit  dieser  Künstlernatur  zu 
beleuchten.  Es  ist  fürwahr  genug,  wenn  einer  auf  seinem  eigenen  Gebiete  dass  Grosse  vermag, 
wenn  einer  in  dem  vollendet  ist,  „was  kein  anderer  kann!" 

So  es  sich  hier  um  eine  erschöpfende  Würdigung  Franz  von  Defreggers  handelte,  es 
wäre  noch  gar  manches  zu  sagen  über  die  anspruchslose  kindliche  Innigkeit  seiner  wenigen 
religiösen  Bilder,  die  eben  auch  so  recht  aus  der  gläubigen  Andacht  des  Volkes  entstanden  und 
für  das  Volk  gemacht  sind,  über  die  kernig  schlichte  Art  seiner  Bildnisse,  welche  ganz  frei  sind 
von  jeder  verstimmenden  Absichtlichkeit  und  darum  oft  so  packend  lebenstreu,  wie  z.  B.  ein  paar 
Selbstporträts  und  das  Bildnis  Lenbachs.  Aber  es  hat  sich  hier  nur  um  einen  kurzen  Rückblick 
auf  das  Schaffen  und  die  Eigenart  des  Meisters  gehandelt,  dessen  siebzigstes  Wiegenfest  ein 
Volksstamm  und  zwei  Nationen,  Deutschland  und  Österreich,  mit  liebevoller  Freude  feiern.  Es 
sollte  nur  wieder  einmal  auf  die  Mannes-  und  Malertugend  eines  starken,  reinen  und  warmherzigen 
Künstlers  hingewiesen  werden,  dessen  ganzes  Wesen  Wahrheit  und  Harmonie  ist  und  den  wir  darum 
nicht  nur  um  sein  Werk,  sondern  auch  als  erhebendes  und  erzieherisches  Vorbild  lieben  und 
feiern  dürfen.     Ist  dies  gelungen,  so  ist  auch  der  Zweck  dieser  Zeilen  erreicht!  F.  0. 

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Villa  Lenbach  In  München 


Franz  von  Lenbach 


VON 


A.  SPIER 


Er  lebt !    Seine  Zeugen  sind  da,  die  diese  Wahrheit  beweisen ! 

An  einem  Maientage  trugen  sie  ihn  zu  Grabe,  die  Künstler,  denen  er  ein  Einziger  war 
und  ein  Einziger  bleiben  wird.  Mit  königlicher  Pracht  verhüllten  sie  die  Grausamkeit  des  Todes. 
Unter  Rosen  und  Lorbeer,  unter  Fackelglanz  und  Trauerklängen  bestatteten  sie  den  Grossen, 
Königlichen ,  der  die  Erde  so  schön  fand  und  so  innig  liebte.  Die  Menge,  die  ihn  auf  dem 
letzten  Erdenwege  nach  dem  einsamen  Moosacher  Friedhof  begleitete,  sie  wurde  von  dem 
starken  Ahnungsvermögen  berührt,  das  ihre  Seele  zu  sein  scheint,  sie  fühlte,  da  wird  die  Trauerfeier 
der  Klage  um  ein  allgemeines  edles  Gut  gerecht,  um  das  Gut  einer  Persönlichkeit,  die  der  Menschheit 
angehört,  wie  ein  kostbares  Fideikommiss,  das  jedem  das  Erträgnis  gibt,  das  er  zu  erkennen, 
zu  nehmen  im  stände  ist. 

Stolz  und  Dankbarkeit  mischten  sich  in  die  Trauer  um  Franz  von  Lenbach,  der 
kindliche  Stolz,  dass  er  in  der  grossen  Familie  der  Heimat  geworden  war,  —  Dankbarkeit,  dass  er 
ihr  anhing  mit  der  echten  Familienliebe,  die  nicht  viel  schöne  Worte  macht,  aber  keine  Kraft- 
anstrengung scheut,  wenn  ihr  Wohl  in  Frage  kommt.  Wie  Eugen  von  Stieler  an  seinem  Grabe 
sagte:  „Wo  immer  in  Stadt  und  Land  es  galt,  ein  künstlerisches  Interesse  zu  wahren,  da  stand 
er  in  der  ersten  Reihe  der  Kämpfenden,  ein  getreuer  Eckart  der  Münchener  Kunst."  So  empfand 
ihn  die  Menge,  das  Volk  als  verwandt  und  zugehörig,  als  ihren  Mittler  zwischen  ihr  und  den  Grossen, 
als  den,  der  emporgestiegen  war,  aus  eigener  Kraft,  auf  der  unsichtbaren  Freitreppe,  die  das 
Genie  sich  spielend  baut,  das  Genie,  das  immer  wieder  alle  Rangbarrikaden  überfliegt,  alle 
Äusserlichkeiten  in  ihrer  Nichtigkeit  zeigt,  immer  wieder  die  grosse  Bergpredigt,  den  Preis  der 
Innenwerte  verstärkt,  erneut,  —  das  Genie,  das  einfach  ist  und  gut,  alles  Menschliche  frei  empfindet 

XVI  23 


152  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

und  frei  übt,  alles  Menschliche  beschützen  möchte,  weil  es  klar  erkennt,  dass  auch  seine  Macht 
eine  Gnadengabe  der  Natur  ist,  weil  es  eine  Dankesschuld  empfindet,  die  es  den  Machtlosen 
abträgt. 

Unter  den  mächtigen  Klängen,  die  Siegfrieds  Tod  begleiten,  betteten  sie  ihn  in  die  schöne  Erde, 
die  er  so  innig  liebte,  deren  möglichen  Untergang  er  sich  mit  Grausen  ausdachte,  deren  unerbittliche 
Vergänglichkeitsgesetze  er  furchtbar  fand.  Und  so  weit  menschliche  Erkenntnis  Zukunftsrechnungen 
wagen  darf,  er  zählt  zu  den  Auserwählten,  die  die  Vergänglichkeitsgesetze  überwinden,  er  wird 
nicht  in  die  Gesamtheit  aufgelöst,   er  bleibt  als  Einziger  bestehen,   er  lebt! 

Alle,  zu  denen  seine  Kunst  spricht,  wissen  es!  Alle,  die  seine  Kunst  lieben,  beschwören  es: 
er  lebt!  Es  sind  die,  die  das  Flammende,  das  Urlebendige,  das  Wahre  in  der  Kunst  sehen,  das, 
was  als  geheimste  und  köstlichste  Macht  die  schöpferische  Persönlichkeit  der  geschickten  Hand  mitteilt, 
das,  was  den  Farben,  der  Technik,  dem  greifbar  Irdischen  das  ewige  Leben  gibt.  Dieses  ewige  Leben, 
das  der  kühle  Verstand  leugnet,  weil  er  es  nicht  sehen  kann,  das  sich  nur  dem  Gefühl  offenbart,  es 
leuchtet  in  der  Kunst  Franz  von  Lenbachs,  es  leuchtet  aus  Hunderten  von  Augen,  aus  den  lachenden 
Augen  seines  jungen  Kindes,  das  nur  die  Sonne  dieser  Welt  sieht,  aus  den  forschenden  Augen 
des  alten  Gelehrten,  der  durch  die  Katakomben  der  Geschichte  erkennend  ging,  aus  den  Augen 
der  erobernden  Naturforscher,  wie  aus  den  Augen  der  erobernden  Frauen,  es  leuchtet  aus  jedem 
Menschenangesicht,  das  er  malte.  Eine  Kunst  reicht  immer  so  tief,  als  die  Persönlichkeit  ist,  die 
sie  schuf.  Nur  an  Lenbachs  Persönlichkeit  ist  die  Tiefe  seiner  Kunst  zu  ermessen.  Nur  ein 
verwandtes  Sehen,  Fühlen,  Erkennen  wird  ganz  in  sie  eindringen,  unter  dem  Gesetz:  „Einem 
Lenbach  in  die  Augen  schauen!" 

Die  Münchener  Künstlerschaft  ist  es,  die  sich  zu  der  Tat  verband,  zu  diesem  Schauen 
die  reichste  Gelegenheit  zu  geben.  Dem  Andenken  Franz  von  Lenbachs,  ihm  allein,  gilt 
die  Ausstellung,  von  der  das  Vorwort  des  Katalogs  sagt:  „An  dreihundert  Werke  Franz 
von  Lenbachs  sind  in  der  Sammlung  vereinigt;  eine  Zahl  —  reich  genug,  die  Arbeit  eines 
Menschenlebens  auszufüllen.  Und  doch  ein  kleiner  Teil  nur  seines  Lebenswerkes,  das,  in 
alle  Welt  verstreut,  treu  verwahrt  und  sorgsam  gehütet  wird  von  der  Liebe  der  Familien  und 
den  Pflegern  der  Museen.  Seine  Kunstgenossen  trugen  diese  Werke  zusammen  als  Zeichen  der 
Verehrung  für  den  Toten,   damit  jeder  erkenne,    welch  ein  Grosser  uns  verloren  ging."  — 

In  dem  imposanten  Kunstausstellungsgebäude  am  Königsplatz,  in  dem  griechischen  Teil 
Münchens,  hängt  dieser  zusammengetragene  Schatz  von  nahezu  300  Gemälden  an  den  Wänden. 
Diesen  Lenbachs  in  die  Augen  zu  schauen,  heisst :  eine  bunte  grosse  Welt  von  Menschen  in  dem 
harmonischen,  schönen  Wahrheitsspiegel  echter  Kunst,  heisst  ein  grosses  Stück  Geschichte,  aus 
der  Kultur,  aus  der  Politik,  aus  dem  vollen  Menschenleben,  heisst  Franz  von  Lenbach  selbst 
sehen.  An  der  Reihe  dieser  Bilder  kann  man  von  ihm  geführt  durch  sein  Leben  gehen  und  das 
heisst:  durch  sein  Schaffen  gehen.  In  seinem  unmittelbaren  Schaffen  ist  sein  ganzes  Wesen,  seine 
Bescheidenheit  und  seine  Souveränität,  sein  Gefühl  und  sein  Geist,  sein  Humor  und  seine  Kritik 
enthalten,  sein  malerisches  Können  ist  das  Instrument,  mit  dem  er  herrscherstark  jeder  Ausdrucks- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


153 


Lenbach  im  Garten  seines 
Münchener  Hauses 


weise  fähig  ist,  es  ist  die  Sprache,  mit  der  er  seine  Geschichte 
schrieb,  mit  der  er  seine  Unsterblichkeit  ermalte! 

Bei  einem  nicht  prüfenden,  nur  schauenden  Gang  durch 
diese  Ausstellung,  die  einzig  in  ihrer  Art  ist,  kommt  die  Ein- 
heit der  Kunst  Franz  von  Lenbachs  zur  stärksten  Geltung.  Kein 
Bild  fällt  aus  dem  grossen  Schönheitsakkord,  da  ist  im  Grund 
keine  Geschmacksabirrung,  kein  Schwanken.  Auf  den  Bestand 
dieser  Einheit  ist  in  dieser  Ausstellung  die  Feuerprobe  gemacht, 
denn  sie  bringt  Werke  aus  jeder  Entwicklungsphase  Franz  von 
||UH|, '  ^ttSjjSfiHK  Lenbachs,  legt  sogar  Nachdruck  auf  solche,  die  der  natura- 
"^""^^""^ ""   '^Ü^^^^K^H        listischen  Richtung    unserer   jüngeren    Gegenwart   Ja  zu    sagen 

scheinen    und    konnte   als   Erweiterung   des   Anschauungsbildes 

ganze  Gruppen  von  Gemälden,  die  den  Reichtum  der  Akkorde 

von  Lenbachs  Farbenschönheitssinn  mehren,  nicht  bringen.    So 

sind   die  Gemälde  der  sogenannten    „schönen  Frauen",    die  so 

bedeutsam  und  beredt  für  Lenbachs  Schaffen  sind,  in  der  Minderzahl  vertreten.     Dennoch    ist  die 

Einheit,  dieser  Beweis   der  Reichsunmittelbarkeit   einer  Kunst    da,    wirksam,    wohltuend,    mächtig! 

er  lebt! 

Er  lebt  in  allem,  was  für  ihn  in  dieser  Ausstellung  geschah,  selbst  in  den  äusserlichen 
Dingen,  die  in  der  Kunst  an  Bedeutung  zu  innerlichen  werden,  ist  seines  Geistes  ein  Hauch  zu 
verspüren.  Die  Tapeten  sind  in  den  Tönen  gewählt,  die  er  billigen  würde,  die  Ausstellungsräume 
sind  mit  schönen  Truhen,  Sesseln, 
Kunstwerken  wohnlicher  ein- 
gerichtet, mit  all  diesen  Mitteln  ist 
den  unläugbaren  Gefahren  einer 
Gemäldeausstellung  entgegen- 
gearbeitet. Lenbach  fürchtete  die 
Massenansammlung  von  nicht 
zusammenstimmenden  Bildern, 
das  Nebeneinander,  das  Zuviel, 
die  Unmöglichkeit,  einem  Bilde 
das  rechte  Licht,  die  rechte  Um- 
gebung, die  rechte  Stille  geben 
zu  können.  ,,Die  Durchschnitts- 
ausstellungen von  heute  sind 
Bilderbegräbnisse",  sagte  er  oft, 
,, manchmal  dritter,  manchmal 
zweiter  Klasse,  aber  Begräbnisse". 


Estrade  in  Lenbachs  Atelier 


154 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Die  Lenbachausstellung  am  Königsplatze,  sie  würde  er  kein  Begräbnis,  er  würde  sie  eine 
Auferstehungsfeier  nennen.  Er  würde  sich  freuen,  diese  Ehrenversammlung  seiner  Werke  zu  sehen, 
wie  er  sich  an  der  Rembrandtausstellung  im  Haag  freute,  er  würde  in  ihr  eine  Probegestaltung 
seines  Lieblingsgedankens  sehen,  eine  Reihe  seiner  vollgültigsten  Werke  in  einer  Galerie  in  seinem 
Hause  zu  vereinigen. 

Franz  von  Lenbach  hat  in  seinem  Haus  in  der  Luisenstrasse ,  das  ein  Denkmal  seines 
Geschmackes  ist,  deutlich  gezeigt,  wie  er  die  Gemälde,  die  für  die  Heimstätten  der  Familien  gemalt 
sind,  dem  Ganzen  harmonisch  eingefügt  sehen  wollte.  Das  von  vielen  Künstlern  so  leicht 
verächtlich  gebrauchte  Wort  ,, dekorativ",  ihm  tat  er  bewusst  und  gern  alle  Ehre  an.  Kunst 
soll  schmücken  und  geschmückt  werden.  Je  edler  der  Kunstgegenstand,  desto  ergiebiger  ist 
er  für  den  Raum,  in  dem  der  Mensch  leben  und  schaffen  und  vergessen,  die  Lebensdissonanzen 
vergessen  soll.  Unter  dem  weiten  Gesetz  „Was  schön  ist,  soll  herein!",  in  dem  nur  der 
Geschmack  der  Grenzwächter  ist,  betrachtete  Lenbach  auch  das  Bild  in  der  Wirkung,  die  er  ihm 
geben  wollte.  Und  jedes  Gemälde  in  der  Dreihundert-Ausstellung  hat  seinen  lebendigen  Schönheits- 
gehalt, der  auf  den  Beschauer  zukommt  und  durch  seine  innere  Macht  das  intime  Verhältnis 
des  Alleinseins  mit  ihm  herstellt.  So  wird  durch  die  künstlerische  Sprache  Franz  von  Lenbachs 
aus  der  Dreihundert-Ausstellung  für  die,  die  eindringen  wollen,  ein  intimes,  festliches,  feierliches, 
grossartiges  Ereignis:  intim,  weil  in  diesen  Bildern  „der  echte  Lenbach"  aus  seiner  ganzen 
Lebenszeit  spricht,  —  festlich,  weil  sie  sich  in  einem  Panorama  der  grossen  Lenbachschen  Welt 
Tag  für  Tag  umschauen  können ,  —  feierlich ,  weil  ein  Genie  aufrichtig  mit  all  seiner  Auf- 
erstehungskraft  sich   beweist,   —   grossartig,    weil    jedes    Bild    die    grosse    ureigene    Art    dieser 

Persönlichkeit  und  ihrer  Kunst  offenbart.  Das  wird 
auch  das  bleibende  Verdienst  dieser  mächtigen 
Lenbach-Ausstellung  sein,  dass  sie  ihn,  Franz  von 
Lenbach,  in  seiner  Einheit  und  Mannigfaltigkeit  reden 
lässt,  dass  sie  ihm  sein  Urrecht  gibt,  sich  selbst  und 
seinen  Nachruf  zu  erproben,  zu  verstärken,  sich  zum 
Ruhme,  —  zur  Freude  aller,  die  die  Kunst  und  ihre 
schönen  unvergänglichen  Wohltaten  lieben! 

Auf  dem  Gang  durch  diese  Lenbach-Ausstellung 
von  seinen  Werken  reden,  heisst  von  i  h  m  reden,  und 
es  könnte  für  den,  der  dem  armen  Worte  die  Wärme, 
die  Wertung  abgewinnt,  dieses  Reden  ein  Porträt  von 
ihm  werden,  eines,  aus  dem,  wie  aus  seinem  Selbst- 
porträt, seine  Augen  hervorleuchten,  seine  Augen, 
die  so  viel  einfangen  und  so  viel  sagen  konnten.  Ich 
nannte  Franz  von  Lenbach  den  Mittler  zwischen  der 
Vorraum  von  Lenbachs  Atelier  Menge   und    den   Grossen.     Als  solcher  erscheint  er 


Kranz  von  Lviibaih  piiit. 


l'lKit.  K.  Iljiil»iacin!l,  Miiinh»ii 


Prinzregent   Luiipold  von   Bayern 


Mit  UrtH  liwlmm«    Irr   Vi-rl«it»«li«i*U    h.    mii.liiuMiu    *.-4».    MiIb.Im-u, 


Franz  von  t.ciibacli  piiix. 


Pbol.  i-.  Hiuhticngl,  MUncbcn 


Prinz   Ludwig   von    Bayern 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


155 


Festsaal  im  Lenbachhause 


in  all  den  Porträts,  in  denen  er  die 
Potentaten  der  Kultur  schildert. 
Er  vermittelt,  indem  er  sie  alle 
menschlich  treffend  darstellt,  er 
unterstreicht  den  anziehenden 
Zug  ihrer  Naturen  wohlwollend, 
alle  menschliche  Unzulänglich- 
keit erkennend.    Er  hat  fast  alle 

regierenden    Häupter    unserer 
merkwürdigen ,      eiligen ,      sinn- 
verwirrenden   Zeit   gemalt.     Die 
Monarchen,  die  Diplomaten,  die 

Wissenschaftler,    die    Geistes- 
fürsten, die  Geldfürsten,  die  Ho- 
heiten   der    Natur,    die    schönen 
Frauen,  sie  sassen  ihm  alle  still, 

und  hinter  seiner  Brille  schien  immer  ein  geheimnisvolles  Mikroskop,  in  dem  er  sein  Auge 
schärfte,  dem  er  aber  nur  selten  die  Spitze  der  Karikatur  erlaubte.  Diese  Unterlassung  ergab  sich 
logisch,  wie  alle  Wahrheit  ist,  aus  seiner  inneren  Menschenanschauung,  die  ins  Herz  der  Kreatur 
sah,  ob  sie  gekrönt  oder  geknechtet  war,  und  nie  einer  Bosheit  einen  ewigen  Platz  schuf. 

Wie  menschlich  anziehend  hat  er  den  Bayern  ihre  königlichen  Herren  gemalt!  Er  malte 
schon  König  Ludwig  1.,  dessen  Verdienste  er  so  hoch  zu  schätzen  wusste  wie  wenige.  Er 
betonte  immer  wieder,  wie  viel  Schönheit  dieser  Romantiker  auf  dem  Throne  nach  München  getragen 
hatte.  Er  sagte  oft,  wie  er  ihn  als  Patrioten,  als  Ästhetiker  schätze,  auf  jeden  Fall  sei  er  eine 
grosse  Figur  in  der  Geschichte,  ein  Mann  von  Bedeutung  für  alle  Zeiten,  und  dass  es  ein  weh- 
mütiger Anblick  gewesen  sei,  ihn  vom  Alter  gebeugt  in  grosser  Einsamkeit  durchs  Leben  schreiten 
zu  sehen.  Und  aufrichtig  erzählt  er,  das  Porträt,  das  er  von  ihm  gemalt ,  habe  dem  König 
durchaus  nicht  gefallen;  beim  Verlassen  des  Ateliers  rief  er:  „Gefällt  mir  garnicht,  viel  zu  alt,  viel 
zu  hässüch !  Adieu!  Adieu!"  Die  Ähnlichkeit,  die  Lenbach  in  König  Ludwig  I.  mit  Moltke  sah,  ist 
auch  in  seinem  Porträt  sichtbar,  vom  Denken  modellierte  Züge. 

Die  Fortsetzung  des  künstlerischen  Sinns  und  Handelns  von  König  Ludwig  I.  in  seinem  Sohn, 
dem  Prinzregenten  Luitpold,  steht  als  eine  tatsächliche  Dokumentation  von  der  Unsterblichkeit 
des  Geistigen  da,  wie  sie  durch  Begabung  und  Tradition  in  die  Erscheinung  tritt.  Das  Verhältnis 
des  Prinzregenten  zur  Kunst  und  zu  den  Künstlern  ist  ein  herzliches  zu  nennen.  Er  nimmt  teil 
an  den  Werken,  wie  an  der  Person,  er  beweist  das  durch  Ankäufe  und  Besuche  und  erhält  eine 
Verbindung  zwischen  Herrscherhaus  und  Kunstwelt,  die  einzig  in  ihrer  Art  ist.  So  ist  der  Prinz- 
regent mit  allem  inneren  Zusammenhang  auch  der  Protektor  der  Lenbach- Ausstellung,  in 
der  sein  Porträt   am    deutlichsten    sagt,   wie  Lenbach    seine    milde  Weise,   seine   menschliche  Ein- 


15G  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

fachheit  und  Freundlichkeit  schaute  und  zeigt.  Prinz  Ludwig,  der  zweite  Protektor,  ist  im  Ornat 
von  vor  zwanzig  Jahren  in  der  Bilderreihe  der  Potentaten.  Sein  Gemälde,  im  Kreise  seiner 
Familie,  ergänzt  den  Eindruck  seiner  Persönlichkeit,  fügt  die  gemütliche  Note  bei.  Eines  der 
merkwürdigsten  Potentatenbilder  ist  das  Porträt  der  Herzogin  Max  in  Bayern,  der  Mutter  der 
merkwürdigen  Familie,  aus  der  die  heroischen  Frauen,  wie  die  Kaiserin  von  Österreich,  die  Königin 
von  Neapel  hervorgegangen  sind,  deren  Sohn,  Herzog  Karl  Theodor  in  Bayern,  der  Augenarzt 
ist,  der  um  der  wissenschaftlichen  und  humanen  Arbeit  willen  die  ärztliche  Tätigkeit  wählte,  der 
Tausenden  von  erblindeten  Armen  „umsonst"  das  Augenlicht  wieder  verschaffte,  der  als  ein  stiller 
Wohltäter  im  Lande  wirkt,  dessen  Tochter  die  Gemahlin  des  Prinzen  Rupprecht  ist,  des  begeisterten 
Anhängers  Franz  von  Lenbachs.  In  Lenbachs  Schaffen  betätigt  sich  durch  drei  Generationen  die 
Devise:  „Es  muss  der  Künstler  mit  dem  König  gehen!"  Und  er  ging  gut  mit  den  Königen, 
da  er  selbst  in  seiner  Weise  einer  war.  Alles  Devote  lag  ihm  fern,  aber  er  hatte  ein  gesundes 
Mass  für  die  Verdienste,  die  Rechte  des  anderen.  Er  konnte  sich  unterordnen,  aber  —  er  bückte 
sich  nicht.  Als  ihm  einmal  ein  gutgesinnter  Diplomat  sagte,  er  sei  bei  einem  Potentaten  in 
Ungnade  gefallen,  er  wäre  bereit,  das  mit  ein  paar  vermittelnden  Worten  wieder  einzurichten, 
meinte  Lenbach,  ihn  ruhig  fixierend:  „In  Ungnade?  Ich?  Bei  ihm?  Das  ist  ein  Irrtum,  Lieber! 
Er  —  bei  mirl" 

Kaiser  Wilhelm  1.  und  Kronprinz  Friedrich,  der  in  so  tragischem  Moment  Kaiser  wurde, 
wie  hat  sie  Lenbach  geschildert !  Die  Geschichte  dürfte  beschwören ,  Kaiser  Wilhelm  sei 
grausam,  kalt,  tyrannisch  gewesen,  Lenbachs  Porträte  würden  als  Verteidiger  seine  milde  Güte, 
seine  gehaltene,  rücksichtsvolle,  fast  zaghafte  Art  beweisen.  Und  wenn  keine  Tat,  kein  Dokument 
bewiese,  dass  Kaiser  Friedrich,  sein  geprüfter  Sohn,  ein  Idealist  war,  das  Gemälde  von  ihm  in 
der  Lenbach-Ausstellung  Hesse  in  seine  Seele  sehen.  Lenbach  war  es  gegeben,  die  Seele  durch  all 
den  Wust  äusseren  Müssens  und  Verzwergens  durchzufühlen,  sie  gewissermassen  aus  dem,  was  das 
Leben  an  der  Uranlage  einer  Natur  verschüttet,  zurückdrängt,  was  oft  nur  wie  ein  vulkanischer 
Funke  in  der  Tiefe  bleibt,  herauszulocken,  künstlerisch  fest  zu  halten.  Diese  Seher-Kunst,  der 
oberste  Helfershelfer  seiner  Malkunst,  ward  ihm  von  seiner  Lebensanschauung  gegeben,  die  ihn 
befähigte,  sich  zu  verneinen,  den  anderen  zu  empfinden,  die  ihn  in  ihrer  Vorurteilslosigkeit  so 
bescheiden  machte. 

Keine  Beziehung  zu  irgend  einem  Potentaten  beweist  so,  ich  möchte  fast  sagen,  elementar 
Lenbachs  urtiefe  Bescheidenheit,  als  die  zu  Bismarck.  Als  ich  ihm  einmal  im  Gespräch  alle  Vor- 
züge seines  Lebens  aufzählte  und  einfügte:  und  „Freund  Bismarck!",  unterbrach  er  mich  tempera- 
mentvoll, wie  ich  das  nur  sagen  könnte.  Das  wäre  gerade,  wie  wenn  ich  sagen  würde,  eine 
Maus  sei  mit  einem  Löwen  befreundet.    Niemand  sei  ein  Freund  Bismarcks,  der  sei  eine  Kulturmacht. 

Diese  Bemerkung  stammt  aus  der  Zeit,  in  der  Bismarck  noch  ungekränkt  auf  seiner  Höhe 
stand,  in  der  die  gemütliche  Kraft  sich  im  Hintergrunde  seines  Wesens  hielt,  in  der  die  grossen 
Aufgaben  sie  zurückdrängten.  Lenbach  lernte  im  Laufe,  und  das  heisst  ja:  im  Wandel  der  Zeiten 
die  ganze  Weichheit,  subjektive  Weichheit  Bismarcks  kennen,  und  eine  Reihe  von  Bildern  drücken 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


157 


auch  dieses  Kennen- 
lernen aus.  An  der 
Hand  der  Lenbach- 
schen  Bismarck- 
p  o  r  t  r  ä  t  s  wäre  Bis- 
marcks  Lebensgang 
in  seiner  Entwick- 
lung, in  seiner  Viel- 
gestaltigkeit zu  cha- 
rakterisieren.    Vom 

preussischen  Sol- 
daten, der  seinem 
Herrn  und  Kaiser 
dient,  vom  gelas- 
senen, scharf  einsetz- 
enden   Diplomaten, 

vom  behaglichen 
Gutsherrn,  den  die 
Schritte  auf  eigenem 
Grund  und  Boden 
freuen,  vom  leiden- 
schaftlichen Poli- 
tiker, der  den  leiden- 
schaftlichen Gegner 
in  sich  schliesst,  vom 

eisernen  Reichs- 
kanzler ,  vom  er- 
schütterten Herr- 
scher, vom  weh- 
mütigen Witwer  er- 
zählt Lenbach  die 
wahre  Geschichte, 
wie  er  sie  erschaut, 
wie  er  sie  zum  Teil 
miterlebt  hatte.  Sagt 
er  doch  selbst,  er 
war  wie  das  Kind 
im  Hause  Bismarcks. 


F.  «.  Lenbach.    Frau  von  Lenbach 


F.  t).  Jjenbacli.    Gabriele  Lenbach 


Wie  Lenbach  den 
eisernen  Kanzler,den 
er  so  als  „geschmie- 
deten" Menschen 
sah,  kennen  lernte, 
darüber  gingen  die 
buntesten  grotes- 
kesten  Geschichten 
um.  Wieder  spukte 
eine  solche  in  der 
Presse,  ich  frug  ihn, 
ob  die  wahr  sei? 
Und  beim  Malen 
über  seine  Brille 
schauend  meinte  er, 
ob  ich  denn  nicht 
die  lehrreiche  Ge- 
schichte kenne!  „Ein 
Engländer,  ein  Fran- 
zose, ein  Deutscher 
werden  beauftragt, 
ein  Kamel  zu  malen. 
Der  Engländer  rüstet 
sich  gründlich  aus 
und  reist  in  die 
Wüste,  um  das  Tier 
in  seiner  Umgebung 
zu    studieren.     Der 

Franzose  packt 
seinen  Malkasten  zu- 
sammen und  kut- 
schiert in  einer  be- 
quemen Droschke 
in  den  zoologischen 
Garten.  Der  Deut- 
sche aber,  —  er  rührt 
sich  nicht  von  der 
Stelle,      bleibt     im 


158 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


F.  V.  Lenbaih.    Arthur  Schopenhauer 


Atelier  —  und  schöpft  das  Kamel  aus  der  Tiefe 
seines  Gemüts,  —  gerade,  wie  die  Geschichten,  wie 
ich  Bismarck  kennen  lernte."  Am  reizvollsten  er- 
zählte das  Lenbach  selbst,  wie  er  ihm  in  Kissingen 
im  Jahre  des  Kullmannschen  Attentats  vorgestellt 
wurde,  wie  er  durch  die  Vermittlung  von  Donna 
Laura  Minghetti,  der  Schwiegermutter  des  Reichs- 
kanzlers von  Bülow,  in  das  Bismarcksche  Haus  kam, 
wie  sich  aber  erst  bei  einem  späteren  Zusammen- 
treffen mit  Bismarck  in  Gastein  die  Beziehung  enger 
knüpfte.  Lenbach  soll  das  Wort  haben,  wie  er  Wyl 
die  verbindende  Episode  erzählte:  „Ich  besuchte  in 
Gastein  eine  Familie,  die  im  oberen  Stockwerk  des 
Hauses  wohnte,  dessen  unteres  Bismarck  mit  seiner 
Familie  inne  hatte.  Als  ich  bei  meinen  Freunden 
oben  angelangt,  erzählte  ich  ihnen  von  dieser  Be- 
gegnung (Bismarck),  und  sie  erklärten  mir  darauf,  ich 
müsse  nun  auf  alle  Fälle  bei  Bismarck  einen  Besuch  machen.  Ich  weigerte  mich  und  sagte,  dazu 
hätte  ich  nicht  das  geringste  Recht.  Man  drang  aber  in  mich  und  sagte,  ich  müsste  wenigstens 
meine  Karte  abgeben.  Das  tat  ich  denn  auch  und  ging  dann  zum  Essen.  Als  ich  darauf  wieder 
ins  Hotel  kam,  begegnete  ich  dem  Fürsten,  der  mich  sehr  freundlich  grüsste  und  mir  sagte,  er 
sei  eben  im  Begriff  gewesen,  mir  einen  Gegenbesuch  zu  machen.  „Da  muss  ein  Irrtum  vorliegen", 
sagte  ich,  „Durchlaucht  müssen  mich  da  mit  dem  seligen  Rubens  verwechselt  haben".  Der  Fürst 
fragte  mich,  ob  ich  schon  gegessen  habe,  und  ich  hatte  die  Geistesgegenwart,  nein  zu  sagen, 
obwohl  ich  noch  mein  Dessert  in  den  Zähnen  spürte.  Bismarck  sagte  nun:  „Ah,  da  kommen  Sie 
mit  mir,  ich  esse  heute  allein".  Er  war  in  einer  schrecklichen  Stimmung.  Eine  Anzahl  von 
Geheimräten  hatte  den  grossen  Mann  mächtig  aufgeregt  und  der  Fürst  machte  dem  Ingrimme 
gegen  sie  ohne  jede  Umstände  Luft.  Auch  sagte  er,  er  sei  in  der  Stimmung,  jeden  für  einen 
Spitzbuben  zu  halten,  der  ihm  nicht  klar  und  deutlich  das  Gegenteil  beweise.  Darauf  sagte  ich: 
„Da  möchte  ich  Euere  Durchlaucht  nur  bitten,  mich  recht  oft  einzuladen,  damit  ich  Ihnen  für 
meine  Person  das  Gegenteil  beweisen  könnte." 

Und  Bismarck  lud  ihn  oft  ein,  und  Lenbach  hat  ihm  Wort  gehalten.  Durch  lange  bewegte 
Jahrzehnte  hindurch  war  er  ihm  der  ehrlichste  Ergebene  im  tiefsten,  wahrsten  Sinne  dieses  oft 
missbrauchten  Wortes.  Von  kaum  etwas  Menschlichem  sprach  Lenbach  mit  solcher  herzlichen, 
freudigen,  geradezu  grenzenlosen  Ehrfurcht  wie  von  Bismarcks  Persönlichkeit.  Alle  Charakter- 
züge Bismarcks  verbanden  sich  ihm  zu  einer  harmonischen  Grösse,  die  er  bewunderte  und  liebte. 
Er  lauschte  auf  jede  seiner  Wesensäusserungen ,  auf  jede  seiner  Äusserlichkeiten.  Wenige, 
nur    ganz    wenige    drangen    so    in    Bismarcks    Eigenart   ein,    wenige    hingen    so    ununterbrochen 


Franz  von  Lcnbach  pinx. 


Pbot  F.  HanhKcnKl,  MOnchen 


Bismarck 


Kranz  von  Lcnbach  piiix. 


Phot.  P.  HaiiUlaeiiKl,  Mdnchcii 


Moltke 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


159 


und  unwandelbar  an  ihr.  Mit  den  Entdeckeraugen  der  Liebe  sah  Lenbach  das  „Ungeheuer",  wie 
er  ihn  oft  nannte.  Das  Urnatürliche  war  Lenbach  so  verwandt,  das,  was  sich  nicht  mit  Kultur- 
lappen oder  Kulturbrokat  verkleiden,  beengen  Hess,  das,  was  durchdrang  und  das  Betragen 
wie  die  Taten  aus  der  organischen  Eigenkraft  schuf.  Nichts  beirrte  Lenbach  in  seiner  Schätzung 
Bismarcks.  Nichts!  Seine  Hingabe  an  Bismarck  war  ein  Zug  in  seiner  eigenen  Grösse.  So  einen 
Andern  empfinden  zu  können,  dazu  gehören  verwandte  Kräfte,  gleiche  Masse  und  Gewichte. 
Lenbach  sah  Bismarck  als  ein  monumentales  Ganze  an,  an  der  Einheit  seiner  Person,  an  dem 
reinen,  von  innen  geschaffenen  Stil  hatte  er  seine  entzückte  Freude.  Gehörte  Lenbach  doch  zu 
den  einsichtigen  Naturwissenschaftlern,  die  an  jedem  Gewordenen  die  Eigenart  bewundern,  an  der 
Eiche  die  Kraft,  an  der  Blume  die  Zartheit,  die  dem  Baume  lassen,  was  des  Baumes  ist.  Alle 
Wesenszüge  Bismarcks  nahm  er  wie  Naturschönheiten  auf.  Wie  sympathisch  war  ihm  die  Ge- 
mütlichkeit im  Bismarckschen  Hause,  das  Leben  und  Treiben,  wie  es  sich  um  den  Grossen  herum 
abspielte,  die  Gastfreundschaft,  die  weder  nach  Rang,  Würde  noch  Frack  frug,  die  Harmlosigkeit, 
mit  der  geplaudert  wurde,  die 
heitere  Stimmung,  die  an  der  Tafel- 
runde herrschte,  zu  der  wohl 
Lenbachs  entzückender  Humor 
das  auserwählte  Seine  beigetragen 
hat.  Ein  kleines,  reizvolles  Bei- 
spiel: „Eines  Tages  klagte  mir 
die  Fürstin  ihr  Leid:  „Da  habe 
ich  meinen  Mann  geheiratet  und 
jetzt  habe  ich  nichts  von  ihm,  er 
arbeitet  Tag  und  Nacht  auf  seinem 
Bureau.  Da  habe  ich  zwei  Söhne, 
an  denen  ich  mich  zu  erfreuen 
gedachte,  und  die  sind  nun  auch 
Tag  und  Nacht  im  Geschirr".  „Ja, 
Durchlaucht",  sagte  ich,  „warum 
haben  Sie  auch  in  eine  solche 
Beamtenfamilie  hineingeheiratet !" 
Den  ,, Beamten"  Bismarck  er- 
kannte Lenbach  aus  der  Tat  als 
einen  gütigen  Menschen  im  Ver- 
kehr mit  den  Seinen,  im  Verkehr 
mit  jedem  Arbeiter,  der  ihm  be- 
gegnete, er  sah  ihn  väterlich  fragen, 
nachschauen,  handeln  und  nannte  /■.  c.  Uubach.   Amoid  Böckiin 


XVi  24 


16U  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

auch  sein  Verhältnis  zu  Deutschland  väterlich.  „Er  ist  eben  ein  Demokrat  im  reinsten  und  besten 
Sinne  des  Wortes,  und  das  sind  schliesslich  alle  wahrhaft  genialen  Leute."  „Bismarck  ist  noch 
heute  kein  Philister  und  verachtet  den  Philister  gerade  so  lebhaft,  wie  er  es  in  jungen  Jahren 
getan  hat."  „Er  hat  von  jeher  zwei  Dinge  getan,  gearbeitet  und  sich  gehen  lassen,  seiner  Natur 
nie  den  geringsten  Zwang  auferlegt.  Alles,  was  nach  diesem  einzigen  Manne  kommen  wird,  wird 
immer  Glas  sein,  immer  wird  man  dahinter  seine  ungeheuere  Gestalt  sehen.  Und  ist  er  einmal 
tot,  dann  wird  es  ganz  ebenso  sein.  Den  Mann  kann  man  nicht  hinausdrücken  aus  dem  Leben 
der  Nation,  aus  der  Geschichte.  Über  alle  Leute  ragt  er  wie  eine  Pyramide  empor.  So  ein 
Mann  ist  ein  Triumph  der  Menschheit,  er  ist  mehr  wert  als  ein  ganzes  Reich." 

Diese  Aussprüche  zeigen,  wie  Lenbach  Bismarck  sah.  Und  jedes  neue  Zusammensein 
bestärkte  seine  Verehrung,  seine  Begeisterung,  die  nichts,  gar  nichts  Devotes,  aber  alle  Natürlichkeit, 
alle  Kindlichkeit,  alles  Reine  wahrer  Liebe  in  sich  trug.  Nur  durch  dies  eindringende  Schauen 
und  Herausheben  der  Höhekräfte  der  Bismarckschen  Persönlichkeit  konnte  Lenbach  der  Menschheit 
dieses  Sammelwerk  von  Bismarckbildern  geben,  die  reden  würden,  wenn  alle  Geschichtsbücher 
verschwänden,  in  dem  er  sich  selbst  ein  Denkmal,  ein  unvergängliches,  für  alle  Zeiten  setzte.  Er 
zeigt  den  Nationen,  wie  Bismarck  dachte,  befahl,  gehorchte,  triumphierte,  unterlag,  weinte  und 
lächelte,  den  ,, Menschen".  Ergreifender,  als  auf  dem  Bild,  das  dieses  Heft  enthält,  hat  er  ihn 
nirgends  gemalt.  Es  erfasst  den  Augenblick,  in  dem  alle  Überzeugung  in  ihrer  Religionskraft  in 
ihm  aufflammt,  dieses  „ich  kann  nicht  anders"  derer,  die  vom  Innern  getrieben  werden,  die 
müssen!  Wenn  sie  eisern  handeln,  so  sind  sie  durch  alle  Gluten  der  leidenschaftlichen 
Empfindung  dazu  geschmiedet  worden,  vom  heiligen  Feuer! 

Moltkes  Bild  führt  schon  hinüber  zu  den  Diplomaten,  zu  denen,  die  gewissenhaft  mit  der 
Anspannung  aller  verfügbaren  Geisteskräfte  ihre  Aufgabe  ausdenken,  die  ihren  Zielen  die  äusserste 
Grenze  setzen,  ihr  Möglichstes  tun  —  und  dann  doch  musizieren  und  sogar  gern  gemalt  werden. 
Sie  haben  die  Ruhe  der  besonnenen  Mathematiker.  Gladstone,  Hohenlohe,  Döllinger,  sie  alle  waren 
Meister  des  Schachspiels  oder  der  Strategie,  —  wie  mans  anschaut,  ob  in  der  Vogelperspektive 
oder  im  Lokalmasse.  Döllinger  sieht  am  temperamentvollsten  aus,  so,  als  ob  er  über  die  diplo- 
matische Schnur  schlagen  möchte,  mehr  schlau  als  kühn.  Döllinger  und  Gladstone,  welche 
auseinandergehenden  Wege  und  Ziele!  Aber  in  der  Zentrale  der  Lenbachschen  Kunst  werden 
die  beiden  zu  Pendants,  die  sich  „künstlerisch"  vertragen.  Auch  Lenbach  hatte  seine  witzigen 
Diplomatenfreuden ! 

Es  ist,  als  ob  sich  im  Kopfe  Mommsens  all  das  Geistige,  was  aus  den  geschlossenen 
Diplomatengesichtern  schimmert,  zur  Geistesflamme  steigerte,  —  zu  der  Geistesflamme,  vor  der 
all  die  Faltengewänder  und  Maskeraden  der  Geschichtsschreiberei  verschwinden,  vor  der  die 
Vorurteile  und  die  Nachurteile  wie  Spreu  verfliegen,  die  die  Wahrheit  von  ihren  Narrenkappen 
und  Schönheitspflastern  reinigt.  Lenbach  hatte  seine  helle  Freude  an  diesem  Kopf,  an  dem 
„stachlichen  alten  Herrn",  wie  er  ihn  gern  nannte.  Mit  Begeisterung  gab  er  sich  der  Wiedergabe 
dieses   Kopfes   hin    und    an    mancher  Venus  wäre   er  für  ihn  vorüber  gegangen.     Er  hätte  wohl 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


161 


F.  V.  IjC'iibach.     Werner  von  Siemens 


F.  T.  /.enbac/i.     Hermann  von  Helniholtz 


gedacht:  davon  gibt  es  Mehrheiten,  aber  es  gibt  nur  einen  Mommsen.  Das  „bewohnte"  Gesicht 
des  Forschers  zog  ihn  von  jeher  an,  in  Schopenhauers  Zügen  suchte  er  dem  Geist,  der  in  die 
Tiefen  steigt,  gerecht  zu  werden,  —  in  Mommsens  durchgeglühten  Zügen  gelang  ihm  das  in  der 
glänzendsten  Weise.  In  Helmholtz',  in  Siemens',  in  Virchows  Porträten,  wie  ist  da  das  geistige 
Leben  mehr  im  Gehäuse  des  Weltmanns  verschlossen,  von  den  Temperamenten  ummauert!  Ein 
Temperament,  das  wie  das  Mommsensche  flammt  —  was  Mommsen  die  Tatsachen  waren,  waren 
Liszt  die  Akkorde,  —  spricht  aus  dem  Lisztschen  Porträt.  Das  ist  der  Mensch,  der  Herr  wurde 
über  die  Regeln  seiner  Kirche,  über  die  Regeln  seiner  Gesellschaft,  über  die  Philister  aller  Sorte, 
und  dessen  feste  Burg  die  Kunst  war. 

Lenbach  sah  und  schätzte  im  Tun  jedes  einzelnen  nicht  das  Handwerk,  nicht  die  Kunst 
an  sich,  die  er  ausübte,  sondern  wie  er  es  tat.  In  dem  Wie  sah  er  die  Rangnote.  Er  war 
im  Stande,  einen  einfachen  Handwerker,  der  einen  seiner  Aufträge  gut  ausführte,  Meister  oder 
Wohltäter  mündlich  und  schriftlich  zu  nennen,  —  und  im  Gegensatz  dazu  einem  Geheimrat, 
einem  der  berühmtesten  Chemiker,  der  ihn,  von  Madrid  zurückkehrend,  besuchte  und  ihm  ver- 
sicherte, er  fände  die  Lenbachschen  Kopien  ganz  so  schön  wie  die  Originale  im  Prado,  zu  sagen: 
„Ich  hör',  Sie  sind  ein  grosser  Chemiker,  mein  Lieber!    Aber  von  Malerei  verstehns  halt  nix." 

Zu  Liszt,  zu  Richard  Wagner,  zu  allen  grossen  Musikern  hatte  Lenbach  ein  sicheres, 
bewusstes  Verhältnis,  das  intimere  zu  den  Grossen  der  Vergangenheit,  unter  denen  er 
Bach    liebte;    Mozart   nannte   er   den  „zärtlichen";  in  jedem  fühlte  er  das  Geniale  seiner  Eigenart, 


162 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


sogar  in  Johann  Strauss  erkannte  er  es,  ehe  dieser  zu  seinem  Ruhme  kam.  Auch  auf  dem 
Gebiete  der  Musik  war  Lenbach  durch  sein  unmittelbares  Verstehen  der  Umfassende,  den 
keine  Mauer  der  Einseitigkeit  beengte.  Sein  musikalisches  Empfinden  war  so  eingeboren,  dass 
er,  ohne  jede  Schulung,  nach  kurzen  Versuchen  den  verschiedenartigsten  Instrumenten  Harmonien 
entlocken  konnte.  Die  alten  Instrumente  interessierten  ihn  besonders.  Einmal  vor  einer  Reise 
nach  Tölz  kaufte  er  eine  ganze  Reihe  zum  Mitnehmen  und  behauptete,  bei  der  Ankunft  müsse 
er  sie  spielen  können.  Und  —  er  erreichte  es,  spielte  weiche  Akkorde,  wie  sie  ihm  auch,  ohne 
es  je  gelernt  zu  haben,  auf  der  Geige  gelangen,  wie  er  sie  oft  zwischen  seiner  Arbeit  auf  dem 
Harmonium  anschlug.  Dieses  Instrument  spielte  Lenbach  so  ausdrucksvoll,  dass  kein  Geringerer 
als  Hermann  Levy  oft  bewundernd  sagte,  eine  solche  Steigerung  brächte  er  nicht  heraus.  Hermann 
Levy,  der  beharrliche  Wagner-Paulus,  den  er  als  Johannes,  als  dirigierenden  Generaldirektor,  als 
lächelnden  Lebenskünstler  malte,  führt  zu  Bayreuth,  wo  Lenbach  Richard  Wagner  malte,  wo  er 
die  interessante  Zeit  der  ersten  Festspiele  miterlebte. 

Wie  alle  im  Grund  echt  wahrhaftigen  Menschen  konnte  er  mit  Niemandens  Person  und  mit 
Niemandens  Kunst  den  Götzendienst  treiben,  den  er,  das  Schöne  mitgeniessend,  in  Bayreuth 
mitansah.  Seine  gesunde  Natur  nahm  nur  Gesundes  auf.  Auch  in  der  Bayreuther  Ekstasezeit 
machte  er  selbst  Wagner  kein  Hehl  daraus,  dass  er  sich  bei  der  Ausdehnung  der  Vorstellungen 
langweile,  und  wenn  ihm  Wagner  zuredete,  klagte  er  beharrlich :  „Aber  ich  langweile  mich"  und  ver- 

liess    die  Vorstellungen        sanfter,  rhythmischer 

vor  ihrem  Schluss.   Sich 


rechtfertigend,  meinte  er 
vom  Parsifal:  „Das  ist 
ja  grad,  als  ob  man  mit 
dem  Bummelzug  durchs 
Paradies  führ',  allweil 
heisst's:  anhalt'n!"Musik 
liebte  er  in  dem  Masse, 
als  sie  in  einem  schön- 
geführten Leben  Ge- 
nüsse steigert,  gewisser- 
massen  auch  ,, dekora- 
tiv" wirkt.  Weiche  Ak- 
korde, wie  er  sie  gern 
auf     dem     Harmonium 

anschlug,    zu     guter 
Stunde    schöne    Lieder 
in  schönen  Räumen,  zu 

sanften   Klängen    ein 


F.  r.  lA-nbach.    Rudolf  Virchow 


Tanz,  —  das  entsprach 
seinem  Geschmack  I  So 
fand  er  es  in  dem  Horn- 
steinschen  Hause,  wo 
gute  Menschen  schöne 
Lieder  sangen,  in  dem 
Haus,  in  dem  die  Frau 
seiner  Liebe  aufwuchs 
unter  dem  Segen  solcher 
Musik.  Bayreuth  war 
ihm  zu  laut,  zu  einseitig. 
Einst,  als  Wagner  nach 
München  kam,  über- 
redete ihn  Lenbach,  mit 
ihm  in  die  Glyptothek 
zu  gehen.  Unterwegs 
zog  Wagner  doch  die 
Einkehr  zu  dem  reinen 
guten    Münchener   Bier 


Kran/  von  Lcnhacli  piiix. 


Phot.  K.  Haiifslai-iiKl.  MUiicIk'ii 


Theodor  Mommsen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


163 


mit  Bratwürstin  den  klassischen  Genüssen  vor.     Lenbach  lachte  und  meinte,   nun  sei   er   gerecht- 
fertigt, wenn  er  in  Bayreuth  desertiere. 

Aller    Kunst    gegenüber    war    Lenbach    keiner    Heuchelei     fähig.       Schablonentaxationen 
anerkannte  er  nicht.     Was  nicht  zu  ihm  sprach,  stiess  er  ab,  kraft  seiner  Natur.     Wenn  sich  das  in 


f.  V.  Lctilxiili.     (ilaclstone  und  Uölliny;er 


derben  Worten  äusserte,  so  waren  diese  nur  die  Knallfeuer  des  Temperaments.  Keine  Bosheit 
blieb  zurück.  Er  hat  oft  Rindvieh  gesagt  und  wohl  zu  gleichen  Teilen  Recht  und  Unrecht  gehabt. 
Sein  Zorn  brauchte  Worte,  keulenkräftige  Worte!  Wenn  er  sie  in  die  Gehörweite  der  Philister 
warf,  so  wurden  sie  ganz  anders  geprägt,  als  sie  gemeint  und  wert  waren.  Sie  könnten  so  aus 
dem  Ganzen  des  Lenbachschen  Wesens  genommen,  abgerissen  beurteilt,  ihn  als  rücksichtslos  oder 
grob  hinstellen,  was  er  nie  war.  Heuchelei,  Unfähigkeit,  Verleumdung,  —  welch  ein  verhängnis- 
voller enger  Zusammenhang  besteht  zwischen  ihnen,  —  die  entflammten  seinen  Widerstand  zu 
Blitz  und  Donner;  wo  er  ihnen  begegnete,  schlug  er  auf  sie  los.  Wenn  er  beim  Anblick  des  Porträts 
eines  Unfähigen  von  einem  Unfähigen  ausrief:  „Da  sind  doch  die  zwei  Rechten  zusammen 
gekommen,  da  ist  ein  Vieh  von  einem  Vieh  gemalt  worden,"  so  war  diese  Äusserung  das  ganze 
Gewitter  seines  Zornes.     Es  gab  sich  schnell.     Nie  schlug   es  in  die  Existenz   eines  anderen  ein. 


164  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

Dazu  war  er  zu  mitleidsvoll,  selbst  mit  dem  Antipathischen.  Einen  Kunsthändler,  dem  alle  Künstler 
die  Ateliers  verschlossen,  Hess  er  immer  wieder  ein.  Befragt,  warum  er  diesem  Widerwärtigen, 
den  Niemanden  mehr  empfange,  seine  Türe  öffne,  war  seine  Antwort:  „Siehst,  der  Kerl  ist  so 
widerwärtig,  den  mag  gar  niemand.  Wenn  auch  ich  ihm  nichts  mehr  gäbe,  war'  er  ganz  ausgestossen  !'* 

Aber  einen  Schurken  nannte  Lenbach  einen  Schurken.  Er  tat  es  nicht  leichtfertig.  Wenn 
er  sich  von  diesem  Rechte  überzeugt  hatte,  verstummte  er  nicht  mehr.  Er  hat  es  bewiesen. 
Seine  Überzeugung  war  stark,  mutig,  laut!  Mit  welchem  zornigen,  werbenden  Feuereifer,  mit 
tausend  zornheiligen  Donnerwettern  und  mit  tausend  güteheiligen  Bitten  und  Dankworten  kämpfte 
er  für  den  Bau  des  Nationalmuseums,  des  Künstlerhauses,  des  Bismarckturmes.  Moses  schlug 
aus  dem  Felsen  Wasser,  —  er  schlug  aus  dem  Gleichgültigen  Teilnahme  und  Taten,  die  einem 
Wunder  gleichen.  Er  selbst  gehörte  zu  denen,  die  ohne  laute  schöne  Worte  mit  stillen  schönen 
Taten  halfen.  Was  er  gab,  wie  er  gab,  wie  er  ausgenützt  wurde,  davon  wissen  nur,  weil  er 
schwieg,  seine  wenigen  Intimen,  seine  Freunde,  manches  nur  seine  einzige  Vertraute,  seine 
Frau,   zu    erzählen.     Für   die   grossen  Objekte  aber  musste  er  bitten  gehen. 

Es  ist  ein  Ehrenkapitel  in  der  Lebensgeschichte  Lenbachs,  wie  er  für  diese  Architekturen 
seine  ganze  Person  einsetzte,  und  wie  sie  nun  unvergänglich  München  schmücken,  sind  sie 
nicht  nur  Denkmäler  seines  Schönheitssinnes,  sie  sind  auch  Denkmäler  seiner  persönlichen  Kraft. 
Als  er  mir  das  eben  in  der  Vollendung  begriffene  Künstlerhaus  zeigte,  stellte  er  mir  seinen 
Freund,  der  sein  ganzes  Vertrauen  als  Künstler  und  Mensch  besass,  Gabriel  Seidl  mit  der 
Bezeichnung  vor:  „Der  ist  die  Mutter  davon,  ich  bin  der  Vater".  Eine  Wandbekleidung  im 
Festsaale  gefiel  ihm  nicht,  sie  schien  ihm  zu  matt.  Mit  welcher  Herzlichkeit  er  auf  Seidl  einredete, 
er  solle  sie  glänzender  machen  lassen:  „Siehst,  ich  mein',  es  solle  von  orientalischer  Pracht  sein, 
weisst  so,  als  ob  300  Juden  400  Jahre  dran  g'stickt  hätten."  Ja,  wie  ein  zärtlicher,  freigebiger 
Vater  wollte  er  dies  Haus  seines  Geschmackes  ausstatten,  und  wie  ein  zärtlicher,  freigebiger  Vater 
beschenkte  er  es,  ideell  und  materiell.  Er  regte  das  griechische  Fest  im  Hoftheater  an,  dessen 
Einnahmen  dem  Künstlerhausfonds  zu  gute  kamen.  Wie  warb  er  um  sein  Zustandekommen, 
lieblich,  witzig!  „Ich  denke  mir  halt  so  ein  Oktoberfest  in  Griechenland."  Wenn  Lenbach  auf 
dem  witzigen  Festbilde  von  F.  A.  Kaulbach  die  Quadriga  kutschiert,  so  stimmt  dieses  Symbol! 
Lenbach  war  es,  der  diesen  Festwagen  lenkte.  Er  lenkte  den  ganzen  Bau  des  Künstlerhauses, 
dessen  Schönheit  alle  Bedenken  besiegte,  zur  Freude  seines  Ur-Vaters,  dem  die  Schenkung  der 
Stadt  für  den  Lieblingsbau  noch  in  kranken  Tagen  eine  Weihnachtsgabe  war.  Seine  Freunde 
wissen,  wie  er  danken  konnte,  wie  ein  beglücktes  Kind.  Jede  Güte  gewann  den  Wiederklang 
seiner  eigenen  ab,  es  war  ein  Echo  in  seinem  Herzen,  das  den  Ton  verstärkte,  steigerte,  festhielt. 
Er  gab  meist  mehr,  als  er  empfing.  Seine  Freunde  wissen  auch,  wie  er  Freundschaft  auffasste, 
wie  eine  heilige  legale  Institution,  in  der  Pflichten  und  Rechte  enthalten  sind,  untrennbare  und 
unvergängliche. 

Seine  Treue  war  eine  lebendige,  tatkräftige,  es  muss  gesagt  sein,  —  oft  unkritische.     Wer 
einmal  mit  ihm  zusammen  geplaudert,  gedacht  hatte,  ihm  zustimmte  oder  ihn  überzeugte,  dem  gab  er 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


165 


leicht  mit  dem  Du  die 
vermeintliche  Freund- 
schaftsnähe. In  dem 
überreichen  kosmopo- 
litischen Verkehr,  den 
er  hatte,  stand  er  unver- 
rückbar fest  zu  seinen 
alten  Beziehungen,  zur 
entferntesten  Verwandt- 
schaft wie  zu  den  alten 
Jugendfreunden.  Der 
Maler  Hofner,  sein  erster 
führender  Kollege   aus 

der   Schrobenhauser 
Zeit,  behielt  seine  Stelle 
im    Lenbachschen    In- 
teresse,   und    es    war 
wohltuend    zu     sehen, 


1' .  (■.  Ijciibitch.     Fürst  Holienlohe 


wie  er  Hofner  vorstellte 
und  seine  Bilder  pries. 
Er  brachte  sie  hie  und 
da  ins  Lenbachsche 
Atelier,  und  ich  sah  zu, 
als  Lenbach  in  eines  der 
warmfarbigen  Hühner- 
bilder plaudernd  hinein- 
korrigierte, dann  sein 
breites  „Lenbach"  zu 
dem  Namen  „Hofner" 
setzte:  „We!sst,  da 
kriegst  mehr  Geld  von 
die  Leut'  — ". 

Lenbach  zählte  zu 
den  guten  Menschen, 
die  von  einem  kritischen 
Urteil  über  Freunde  in 


ihrer  Freundschaft,  wenn  sie  den  Kern  der  Natur  schätzten,  nicht  gestört,  die  ihnen  individuell 
gerecht  werden,  wie  es  Lenbach  Böcklin  wurde,  dessen  gegensätzlicher  künstlerischer  Weg,  dessen 
gegensätzliche  künstlerische  Anschauung  ihm  ganz  klar  war.  Lenbach  war  der  Böcklinschen  Kunst, 
ohne  sie  so  hoch  einzuschätzen ,  wie  es  heute  geschieht,  viel  toleranter,  als  Böcklin  der  seinen. 
In  jedem  Urteil  zog  er  die  gegebene  Art  und  Grenze  der  Begabung,  das  unzulängliche  Menschliche 
in  Betracht.  In  diesem  grosszügigen  Sinne,  ohne  nach  der  innersten  künstlerischen  Überein- 
stimmung zu  fragen,  stand  er  vielen  bei,  lebendig  war  er  für  sie.  Wo  es  galt,  für  sie  einzutreten, 
nahm  er  ihre  Sache  auf  seine  breiten,  starken  Schultern.  Wyl  erzählte  er  ausführlich,  wie  er 
für  Moritz  von  Schwind  handelte:  „Schwind  sagte  mir  eines  Tages,  dass  es  ihm  „nicht  extra" 
gehe.  Er  habe  das  ganze  Atelier  voll  „Bildein",  aber  niemand  kaufe  ihm  etwas  ab.  Es  stellte  sich 
heraus,  dass  Schwind  etwa  fünfundzwanzig  Bilder  kleineren  Formats  vorrätig  hatte  und  dass  er 
willens  war,  diese  ganze  kleine  Galerie  für  achttausend  Gulden  loszuschlagen,  ich  fasste  nun  den  Ent- 
schluss,  Schack  dieses  Geschäft  plausibel  zu  machen.  Das  war  aber  kein  leichtes  Stück  Arbeit. 
Schack  sagte:  „Ich  mag  die  Bilder  von  Schwind,  den  Kerl  selbst  aber  kann  ich  nicht  leiden". 
Kam  ich  zu  Schwind,  so  sagte  der  wieder:  „Der  Kerl  ist  mir  unausstehlich".  Was  sollte  ich  nun 
tun,  um  zwischen  zwei  solchen  Feinden  einen  Handel  zustande  zu  bringen?  Ich  begann  Schack 
zu  erzählen,  wie  sich  Schwind  für  indische  und  persische  Literatur  begeistere  und  dass  er  erklärt 
habe,  Schack  sei  ein  wunderbarer  Mann,  der  die  Dichtungen  des  Orients  nicht  nur  übersetzt, 
sondern  neu  gedichtet  habe.  „Die  ganze  Zeit  schwärmt  er  mir  von  Firdusi  vor,  und  obwohl 
ich  selbst  diese  Sachen  bewundere,  so  wird  mir  das  schliesslich  doch  etwas  langweilig".  —   „So, 


166 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


so,"  sagte  Schack,  „das  habe  ich  ja  garnicht  gewusst,  dass  der  Schwind  ein  so  gebildeter, 
geschmacicvoller  Mann  ist".  Nun  rückte  ich  mit  der  Offerte  heraus,  mit  den  fünfundzwanzig  Bildern 
für  achttausend  Gulden ;  das  ging  aber  schon  schwerer.  Endlich  brachte  ich  es  aber  doch  zustande. 
Schack  verlangte  nur  noch  ein  Bild  als  Zugabe,  so  wie  man  beim  Fleischer  einen  guten  Suppen- 


F.  c.  lAinbach.    Wilhelm  von  Riimann 

knochen  verlangt,  und  ich  glaube  auch,  dass  Schwind  das  verlangte  Bild  gegeben  hat.  Kaum  war 
der  Kauf  abgeschlossen,  so  wollte  Schack  die  Bilder  sofort  holen  lassen,  ich  aber  sagte,  dass  Schwind 
das  Geld  dringend  brauche  und  es  sofort  haben  müsse.  „Geben  Sie  mir  die  achttausend  Gulden",  fügte 
ich  hinzu,  „und  ich  will  im  Augenblick  alles  in  Ordnung  bringen".  Und  so  geschah  es  auch.  Schack 
schickte  einen  Kammerdiener  mit  einer  Kutsche  und  Hess  die  ganze  kleine  Schwind-Galerie  abholen." 
So  half  Lenbach  dem  Freunde  und  der  Schack-Galerie.  Überall  griff  er  vermöge  seines 
warmen  Temperaments  und  seiner  vorurteilslosen  Intelligenz  tätig  ein.  So  versöhnte  er  Semper 
und  Wagner  nach  dem  ähnlichen  Rezepte,  wie  das  schon  Shakespeare  bei  Benedikt  und  Beatrice 
anwandte,  er  pries  den  einen  dem  andern  so  lange  und  heftig  an,  jeder  glaubte  es  gern  —  und 
die  Feindseligkeit  wandelte  sich  in  die  alte  Freundschaft. 


Franz  von  Lciibacli  piiix. 


Phot.  F.  HanfslaeiiKl,  Milnchen 


Franz   Liszt 


Franz  von  Lenbacb  pinx. 


Phoi.  K.  MinlslaenKl.  MUnchen 


Rudolf  von  Sei tz 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


167 


Lenbach  blieb  dem  verdienstvollen  Semper,  dem  Menschenränke  so  tragisch  mitspielten,  ein 
stützender  Freund,  rührende  Briefe  Sempers  legen  davon  Zeugnis  ab.  Auch  nach  Sempers 
Tod  trat  Lenbach  mit  scharfer  Energie  für  ihn  ein.  „Als  das  Opfer  elender  Schliche  den  Geist 
aufgegeben  hatte,  veranstaltete  die  Wiener  Künstlergesellschaft  zu  Ehren  des  Verblichenen  eine 
kleine  Feier.  Bei  dieser  Gelegenheit  erschien  in  einem  sehr  bekannten  Blatte  eine  Biographie 
Sempers,  worin  ausgeführt  wurde,  Semper  sei  schon  bei  seiner  Ankunft  in  Wien  ein  gebrochener 


^ 


F.  V.  l^enbach.    Adolf  Hengeler 

Mann  gewesen;  doch  sei  sein  Werk  von  einer  jüngeren,  ausgiebigeren,  bedeutenden  Kraft 
übernommen  und  glücklich  zu  Ende  geführt  worden.  Wütend  über  diese  ungeheure  Lüge,  schrieb 
ich  an  die  Redaktion  des  betreffenden  Blattes  und  schloss  einen  Brief  an  dessen  Kunstredakteur 
bei,  worin  ich  mit  den  denkbar  schärfsten  Ausdrücken  meiner  Auffassung  Ausdruck  gab.  Es  sei 
eine  wahre  Schmach,  schrieb  ich,  Semper  an  seinem  offenen  Sarge  die  Ehre  zu  rauben.  Alles, 
was  an  den  Bauten  gut  sei,  sei  das  Werk  Sempers,  alles  Schlechte  rühre  von  Hasenauer  her.  Den 
wenigen  Eingeweihten  sei  dieser  Tatbestand  schon  längst  bekannt  und  es  sei  schändlich,  wenn 
man  es  immer  wieder  versuche,  das  grosse  Publikum  irrezuführen.  Zum  Schlüsse  gab  ich  mir 
die  Ehre,  in  der  unverblümtesten  Weise  den  Herrn  Kunstschreiber  meiner  vollen  Verachtung  zu 
versichern.  Was  war  die  Folge  davon?  Ich  erhielt  von  dem  edlen  Kunstschreiber  einen  süssen 
wedelnden  Brief,  den  ich  der  Redaktion  zurückschickte  mit  der  Bemerkung,  dass  ich  die  Verachtung, 

XVI  25 


168 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


F.  c.  LciiLmh.     Ucorg  Proubst 


die  ich  bisher  für  Herrn  ,  .  .  allein  empfunden,  nun- 
mehr auf  die  ganze  Redaktion  ausgedehnt  wissen 
wolle.  Der  brave  Kunstschreiber  hatte  später  die 
Frechheit,  mich  besuchen  zu  wollen.  Ich  habe  ihn 
aber  ohne  Zeremonien  irgend  welcher  Art  hinaus- 
komplimentiert." 

So  handelte  Lenbach  an  seinen  Freunden,  —  auch 
an  den  Stummgewordenen.  Für  die  Stummgewordenen 
reden,  für  die  Schlafenden  wachen,  für  die  Toten 
kämpfen,  —  das  ist  in  dieser  Welt  die  Feuerprobe  der 
echten  Treue,  die  keinen  Lohn  und  keinen  Dank  will. 
Lohn  und  Dank,  diese  Güter,  hat  Lenbach  überreich 
vorausbezahlt,  und  viele  Schuldner  von  ihm  halten 
sich  still  im  Lande,  trotzdem  die  Bilder  an  den  Wänden 
zu  ihnen  reden  sollten  und  reden.  Noch  als  schwer- 
kranker Mann  sagte  er  beim  Besprechen  der  Zukunft, 

der   materiellen  Verhältnisse  zu  seiner  Frau,  man  habe  doch  nicht  nur  mit   dem    baren  Gelde  zu 

rechnen,    man  habe   doch    auch    sichere  Güter  in  der  Freundschaft:     „Ich    habe    mein  Vermögen 

doch  mehr  in  Freundschaft  als  in  Geld    angelegt "     Ja,   Freundschaft  und  Liebe  hat  er 

gehalten.     Sie  waren  die  Religion  seines  Herzens,  die  so  viel  Güte  verbreitete. 

Wie  Lenbach   zu   den   Menschen   stand,   das  ist  der  Welt,  der  immer  nur  Momentaufnahmen 

von   jeweiligen    zufälligen   Eindrücken   gegeben   werden,    zum   grossen  Teile   fremd,   unklar.     Die 

Nüchternen,    die    sich    so     leicht,    da    sie 

Phantasie-    und    ideenarm    sind,    zu    Miss- 
günstigen und  Böswilligen  auswachsen,  sind 

eigentlich  dem  Grossen,  den  sie    erreichbar 

nahe  im  Erfolg  sehen,  von  vornherein  nicht 

gut.     Erst   wenn  sie   durch  Todesferne   und 

Denkmalpyramiden  von  ihm    getrennt   sind, 

finden    sie  ein   zustimmendes  Verhältnis    zu 

ihm.  Sie  können  es  nicht  freudig  mitansehen, 

wie    ihm  der    böse,    wie  ihm   der  gute  Tag 

besondere  Ernten    in    die   Scheune    schiebt. 

Es  erleichtert  sie  von  der  Bürde  des  Neides, 

ihn  zu   verkleineren.     Entstellende  Gerüchte 

werden  von  Mund  zu  Mund  zu  historischen 

Tatsachen  geprägt,  —  und   da  sie  in  einem 

Umkreis  ihr  Leben  weiterführen,   der  denen  f.  v.  Unback.   Fritz  Piank 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


169 


F.  V.  Lenbach.    Frau  N. 


ganz  fern  liegt,  die  berufen  wären,  die  Rechenschaftsjustiz  zu 
üben,  führen  sie  ein  meist  ungestörtes  Dauerleben  in  der 
Riesengruppe  der  historischen  Lügen. 

Lenbachs  lustige  Antwort  auf  die  Frage,  wie  er  seine 
beiden  Häuser  verbinde,  ,,mit  einer  Hypothek",  mit  welcher 
Vorliebe  ward  sie  als  Charakteristikum  leichter  Auffassung  von 
Schulden  weitergetragen !  Der  Nachdruck  wurde  nicht  darauf 
gelegt,  wie  kühn  ein  Mann  ohne  Bargeld  bauen  kann,  wenn 
er  eben  das  Geld  in  fleissigen  Wochen  schnell  ermalt,  nur  „ein 
Genie!"  Ihm  galt  Geld  als  Tauschwert,  nicht  als  Gut  an  sich, 
dem  irgend  welche  Opfer  zu  bringen  Sinn  hätte.  Die  kostbaren 
Tauschwerte  seiner  Bilder  verschenkte  er   ohne  Besinnen,  ohne 

Berechnen,  wenn  ihn  die  Sympathie  oder  das  Mitleid  oder  —  die  Schmeichelei  in  ihre  Macht  bekam. 
Er  konnte  es  durch  die  ausgleichende  Sicherheit,  die  in  dem  Bewusstsein  lag,  dass  er  im  rechten 
Moment  die  rechten  Preise  stellen  konnte  und  erhielt,  ruhig  tun.  Er  fühlte  damit  auch  sein  Opfer 
gewertet,  denn  manches  Mal  war  es  ein  Opfer,  die  sogenannten  „Kunden"  zu  malen,  uninteressante, 
, .unbewohnte"  Gesichter.  Dann  sprach  er  wohl  von  einer  Sehnsucht  nach  rückhaltslosem  freiem 
Schaffen;  Hühner,  Mythologisches  wollte  er  malen,  —  keine  Besteller!  Aber  wenn  er  die  Besteller 
unter  seine  schöpferischen  Augen  bekam,  da  ging  sein  malerischer  Spürsinn  suchend  aus,  —  und 
welche  Entdeckungen  machte  er!  An  einem  der  uninteressantesten,  hässlichsten  Männerköpfe,  den 
lange  Ohren  für  jedes  andere  Auge  noch  mehr  entstellten,  lobte  er  gerade  die  Ohren:  ,, Schaut  nur 

hin,  das  sind  ja  gar  keine  Ohren, 
da  ist  jedes  eine  ganze  Land- 
schaft!" Er  sah  eben  alles  in  dem 
malerischen  Spiel  von  Linien  und 
Lichtern;  das  Malerische  blieb 
ihm  immer  das  Magnetische,  die 
schöne  Frau,  die  seelenlos  war,  — 
nannte  er,  während  sie  im  Voll- 
gefühl ihrer  Auszeichnung  sein 
Atelier  verliess:  „Eine  schöne 
Kuh".  Das  drückte  keine  Miss- 
achtung aus,  nur  eine  Graduie- 
rung, denn  eine  schöne  Kuh  hatte 
seinen  vollen  Beifall.  Sein  Beifall! 
Wie  falsch  wurde  er  gerade  von 
Frauen  gewertet,  und  wie  viel 
F.  V.  Lenbach.   Liiian  Sanderson  flüchtiger  war  er,  als  erschien. 


170 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Lenbach  war  so  in  sein  künstlerisches, 
tätiges,  geistiges  Leben  eingewurzelt,  dass 
seine  reiche  lebendige  Subjektivität  immer 
wieder  in  seiner  Kunst  aufging,  dass  ihm 
in  der  Fülle,  in  der  steten  anregenden  Be- 
wegung seines  Schaffens  jedes  Suchen,  jedes 
Pflegen  intimen  Verkehrs  fern  lag.  Seinem 
persönlichen  Gefühlsleben  ward  er  sehr 
wählerisch  gerecht.  Reiche  auserlesene  Er- 
folge und  schwere  bittere  Enttäuschungen 
hatten  ihn  im  Grund  seines  Wesens  „vor  der 
Welt  verschlossen !"  Seine  gütige  Menschen- 
freundlichkeit machte  die  Türen  seines 
grossen  Wesens  weit  auf,  wie  die  Türen  einer 
katholischen  Kirche.  Aber  —  das  Aller- 
heiligste,  das  hütete  er.  In  seiner  liebens- 
würdigen Natürlichkeit,  in  der  Ansprache 
„Schöne  Frau"  brauchte  er  den  „Haupt- 
schlüssel", der  ihm  bequem  war.  Nur  die, 
die  tiefer    schauen,    wissen,    wie    freundlich 


/'.  r.  I,riibiiili.     I'rau  Hcdwij{  Dohm 


/'.  t.  LciiLuili.     Königin  von  Neapel 

und  herzlich  gerade  ein  Objektiver  sein 
kann,  ohne  sich  zu  geben.  Diese  Freund- 
lichkeit und  Herzlichkeit,  die  sich  verneint 
und  den  Anderen,  der  im  Durchschnitt 
nur  geschwätzigen  Egoismus  gewöhnt  ist, 
reden  macht  und  reden  lässt,  zieht  an  wie 
ein  Spiegel.  Und  Lenbach  wirkte  auf  die 
meisten  wie  ein  Spiegel  und  diese  meisten 
gaben  sich  bewusst  oder  unbewusst  alle 
Mühe,  vor  diesem  verewigenden  Spiegel  so 
schön,  so  geistig,  so  interessant  wie  mög- 
lich zu  sein,  Männer  wie  Frauen. 

Die  Männer  charakterisierte  Lenbach 
nach  ihres  Wesens  Kern,  das  Malerische 
in  der  Modellation  des  Kopfes  gebend, 
die  die  Schönheit  des  Mannes  bedeutet. 
Bei  den  schönen  Frauen  malte  er  die 
Schönheit  als  Selbstzweck! 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


171 


Die  Behauptung,  Lenbach  sei  als  Maler  von  Männerporträts  hervorragender  wie  als  Maler 
von  Frauenporträts,  ist  schon  einer  jener  allgemeinen  Glaubenssätze  geworden,  die  aus  einem 
Trugschlüsse  entstanden  sind  und  ohne  Nachprüfung  nachgesprochen  werden  und  bestehen.  Das 
Leben  jedes  einzelnen  Kopfes  brachte  er  durch  sein  schöpferisches  Können  in  die  lebensvollste 
Erscheinung,  ob  es  ein  Männerkopf  oder  ein  Frauenkopf  war,  er  gab  mit  seiner  mächtigen  Kunst,  was 
er  sah  und  was  malerisch  zu  sagen  war.  Der  Nachdruck  ist  auf  das  Wort  „malerisch"  zu  legen, 
denn  bei  all  seinem  tiefgründigen  Sehen  in  die  Natur  der  Männer  wie  der  Frauen  verwarf  er  die 
sogenannte  Wahrheit  der  modernen  Kunst,  die  die  Dissonanzen  betont.  Er  wollte  nicht  überraschen, 
blenden,  aufregen,  er  wollte  still  beglücken.  „Die  grossen  Meister  der  Alten  ziehen  einen  so  sanft 
und  mild  in  ihre  Kreise".  Es  war  eine  zwingende  innere  Verwandtschaft,  die  ihn  von  seiner 
frühen  Jugend  an  zu  den  Werken  der  Alten  zog,  und  schon,  als  er  noch  in  Aresing  und  Schroben- 
hausen  Porträts  malte,  erkannte  er: 
„dass  in  der  alten  Kunst  allemal 
dasjenige  Werk,  das  einen  ganz 
unmittelbaren  Eindruck  macht,  mit 
der  grössten  Rücksichtslosigkeit 
aus  der  Fülle  der  Erscheinungen 
herausgeschnitten  ist,  ohne  dass 
etwas  dazu  getan  oder  davon  ge- 
nommen wäre.  Diese  Ausschliess- 
lichkeit, diese  Konzentration  auf 
die  vorliegende  Aufgabe,  dieses 
Gefühl,  dass  das  lebendige  Wesen, 
das  man  vor  sich  hat,  nie  wieder- 
kommt, dass  es  ein  Unikum  ist 
in  der  Welt  der  Erscheinungen, 
macht  dem  Künstler  den  Gegen- 
stand seines  Schaffens  zum  Er- 
eignis. Er  fühlt  sich  durchdrungen 
von  der  Pflicht,  der  zerstreuten 
unruhigen  Natur  gegenüber  etwas 
zu  schaffen,  was  für  alle  Zeiten 
dauern  und  auf  den  Beschauer 
einen  einschneidenden  Eindruck 
machen  soll.  Es  kam  mir  dabei 
vor,  als  hätte  ich  in  keinem 
meiner  Zeitgenossen  diese  tiefe 
Versenkung    in    die    einzelne    Er- 


F.  c.  Lenbach. 


XVI  26 


172 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


scheinung  gefunden ,  und  auch  bei  der  grossen  Masse  der  alten  Maler  fand  ich  sie  nicht,  mit 
Ausnahme  der  grossen  Herren,  der  Tizian,  Rubens,  Velazquez  und  anderer".  „Alle  diese  Ideen 
kamen  mir,  während  ich  an  dem  Bildnisse  meines  Bruders  malte.  Ich  fühlte,  dass  ich  nichts 
auf  der  Welt  zu  tun  hätte,  als  etwas  Bestimmtes  aus  der  Natur  herauszugreifen,  was  auf  meinem 
Bilde  den  Eindruck  einer  machtvollen  Lebensfülle  machen  müsse,  und  dass  das  nur  zu  erreichen 
sei  in  einer  glücklichen  Form,  aus  der  alles  ausgeschieden  wäre,   was  die  Einheit   stören    könnte, 

das  Licht  in  einem  entschiedenen  Rhythmus 
verteilt,  alles  gleichsam  zu  einem  dramatischen 
Moment  gesteigert  wäre,  zugleich  aber  wieder 
zur  harmonischen  Ruhe  durchgebildet." 

Nach  dieser  idealsten  Anschauung  eines 
Porträtmalers,  die  auf  dem  Urboden  seiner 
eigenen  Natur  erwuchs  und  am  inneren  ver- 
wandtschaftlichen Zusammenhang  mit  den  alten 
Meistern  zum  klaren  Bewusstsein,  zur  realen 
Tatkraft  erstarkte,  malte  Franz  von  Lenbach.  Aus 
seinem  ursprünglichen,  unmittelbaren  Instinkt 
heraus,  ohne  schulhaften  Wegweiser,  fand  er 
sich  zu  den  Alten,  und  lebenslänglich  ging  er 
in  ihre  Lehre,  lebenslänglich  arbeitete  er,  unter 
ihrem  Einflüsse  sich  an  ihnen  messend,  an  der 
Verfeinerung  seines  Könnens.  Als  ich  ihm 
einmal  beim  Unterzeichnen  einer  Skizze  von 
Mommsen  zusah,  frug  ich,  während  er  die  ersten 
Buchstaben  zog,  ob  er  denn  nie  „von"  Lenbach 
unterzeichne?  Er  hielt  ein,  sah  mich  lächelnd 
an  und  meinte:  „In  der  Kunst  da  gibts  kein 
,von',  da  muss  man  schauen,  dass  man  nachkommt!" 

Als  Lenbach  im  Jahre  1893  bei  Gelegenheit  des  ersten  Kongresses  der  Deutschen  Gesell- 
schaft zur  Beförderung  rationeller  Malverfahren  die  gewählte,  glänzende  Ausstellung  alter  Meister- 
werke im  Glaspalast  veranstaltete,  hielt  er  eine  Rede,  die  zu  den  kostbarsten  Dokumenten  seines 
Nachlasses  zählen  darf,  die  in  kurzen  Zeitabschnitten  immer  wieder  da  gelesen  werden  müsste, 
wo  Kunst  gelehrt,  gelernt,  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  begriffen  werden  soll.  Sie  zeigt,  mit  welchem 
eindringenden  Ernste  Lenbach  die  Fragen  der  Kunst,  die  ihn  von  Jugend  auf  beschäftigten,  durch- 
drang, wie  klar  er  seine  Erkenntnisse  feststellte.  Er  hatte  all  die  forschende  Bewusstheit  und  all 
die  tiefe  Herzlichkeit  im  Verhältnis  zur  Kunst,  die  er  in  den  Reynoldschen  Reden  unablässig  be- 
wunderte. Nur  fehlte  ihm  der  breite  Wirkungsboden,  den  Reynolds  hatte,  den  sich  Lenbach  wünschte. 
Diese  Rede  Lenbachs  kann  neben  den  Reden  Reynolds'  bestehen,  sie  enthält  das  Erfahrungsbekenntnis 


F.  V.  Ijenbach.    Porträt 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


173 


F.  V.  Lenh(nli.     Matlchcnkopi 


eines  scharf  denkenden,  durchgebildeten  Künstlers,  der,  ein 
gütiger  Mensch  zugleich,  die  goldene  Ernte  seiner  umfassenden 
Praxis,  ein  so  kostspieliges  und  kostbares  Gut,  den  Kommenden, 
den  Suchenden  fruchtbar  machen  möchte.  Noch  wartet  Len- 
bachs  mit  altruistischer  Begeisterung  ausgedachter  Plan  einer 
praktischen  Werkstätte,  in  der  dem  Künstler  alle  nützlichen  und 
bewährten  Erfahrungen  in  der  Technik  praktisch  auf  die  er- 
probteste Art  übermittelt  würden,  der  Verwirklichung.  Ein 
Lieblingsgedanke  Lenbachs  war  es,  eine  solche  Werkstätte  nach 
seinem  Sinne  zu  gründen  und  zu  leiten.  Dass  ihm  die  Stadt 
oder  der  Staat  diese  Lehrgelegenheit  nicht  gaben,  bleibt  ein 
unberechenbarer,  unersetzlicher  Verlust.  Altruistisch  war  sein 
Plan,  den  „Anderen"  sollte  er  dienen,  denen,  die  kommen,  wollen,  suchen  werden,  die  auf  so 
vielen  Irrwegen  Zeit,  Kraft,  zu  oft  sich  selbst  verlieren :  ihnen  wollte  er  den  Weg  zu  einer 
technischen  Meisterschaft,  die  er  in  der  modernen  Kunst  so  sehr  entbehrte,  ohne  die  keine  reine 
künstlerische  Sprache  erreicht  wird,  erleichtern,  die  rechte  Grammatik  wollte  er  ihnen  verschaffen. 
Seine  Grammatik,  wie  hat  er  um  sie  geworben  und  wieder  geworben,  und  wie  hatte  er  sie  sich 
erobert  als  seinen  grundeigenen,  unnachahmlichen  Besitz! 

Vor  dem  echten  Lenbachschen  Können  stehen  die  Maler  erstaunter  wie  die  Laien.    Im  Glas- 
palast in  München  hörte  ich  einen  der  anerkanntesten  österreichischen  Maler,  der  selbst  Lehrer  ist, 

vor  dem  Lenbachschen  Porträt  des  Freiherrn  von 
Tucher  sagen:  „Wie  man  das  macht  — wie  man  das 
macht  —  aus  der  ganzen  Ausstellung  möchte  ich  nur 
dieses  Auge  als  den  Inbegriff  vollendeter  Meisterschaft 
mitnehmen!"  Das  Auge!  Es  interessierte  Lenbach 
immer  und  überall,  nicht  nur  beim  Menschen,  auch 
beim  Tiere.  Das  Auge  eines  Hundes,  eines  Fisches, 
einer  Katze,  wie  konnte  er  es  bewundern !  Noch  auf 
einer  seiner  letzten  Reisen  interessierten  ihn  die  Augen 
eines  Bockes  dermassen,  dass  er  ihn  kaufen  und  nach 
München  vor  seine  Staffelei  haben  wollte.  Lenbach 
steigert  manchmal  seine  Darstellungsart,  im  besonderen 
die  des  Auges,  bis  zur  höchsten  Virtuosität,  wie  ein 
Paganini,  der  auf  der  G-Saite  ganze  Stücke  spielte, 
zeigt  er  durch  das  im  Auge  konzentrierte  Leben  den 
ganzen  Menschen. 

Ja,  wie  er  das  macht!    Ob   er  mit  Bleistift  oder 
F.  V.  i^nbacii.   Lenbachs  Vater  KoHle,   mit  Pastellfarben   oder  Ölfarben    malt,   ob   er 


174  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

nur  wenige  Striche  auf  den  Pappendeckel  wirft  oder  ein  Gemälde  bis  ins  tiefste  vollendet, 
er  schafft  ein  Leben,  das  sich  der  Wortbeschreibung  entzieht,  das  jede  Kleinlichkeitskritik 
überstimmt,  über  sie  triumphiert.  Ob  er  durch  vorbereitende  Photographien  sein  Formen- 
gedächtnis kontrollierte  —  mehr  bedeuteten  sie  ihm  nicht,  —  ob  er  die  Hände  vernachlässigte 
und  sich  damit  eines  der  stärksten  bildlichen  Sprachmittel  entschlug,  ob  er  dem  konservativen 
Ähnlichkeitsbegriff  seine  persönliche  geistreiche  Momentaufnahme  und  Momentauffassung  vorzog, 
jeder  Versuch  trägt  sein  Leben.  Wenn  er  einmal  die  Hände  malen  wollte,  so  sprachen  sie  wie 
seine  Augen!  Und  wie  eingehend  oder  wie  flüchtig  er  malte,  den  grossen  Strich,  das,  was  nur 
er  hatte,  gab  er  jedem  Bilde  mit.  Die  sichere  Bewältigung  aller  technischen  Schwierigkeiten 
gab  ihm  die  grosse,  oft  spielende  Ruhe.  Mit  seinem  findenden  Blicke,  mit  seinem  findenden  Geiste 
trug  er  aus  allem  Schauen  und  Denken  Mittel  in  seine  Werkstatt;  er  grübelte  nie  bis  zur  Beschwerde, 
er  probierte  immer  von  neuem,  kühn  und  wissenschaftlich  dabei,  ein  frohes,  angeregtes,  lustiges 
Tun  und  Gewinnen!  Wenn  man  seine  nach  Tausenden  zählenden,  in  der  ganzen  Welt  zerstreuten 
Gemälde  nur  zur  Betrachtung  ihrer  malerischen  Technik  nebeneinanderstellen  und  auf  ihre  Viel- 
seitigkeit und  Fortschritte  hin  prüfen  könnte,  alle  kritischen  Erwägungen  würden  vor  der  höheren, 
mit  sich  fortziehenden  Macht  der  Lenbachschen  Kunst  verschwinden.  Aus  all  ihrer  Vielartigkeit 
und  Wandlungsfähigkeit  stiege  die  Einheit  des  Genies  Franz  von  Lenbachs  hervor,  des  Genies, 
das  kann,  was  es  will.  Unwiderstehlich  zieht  es  in  seine  Kreise,  vor  seinen  ruhigen  harmonischen 
Spiegel,  zum  Mitgenusse  seines  „paradiesischen"  Sehens!  Er  wollte  das  Ganze  der  Welt  „paradiesisch" 
sehen,  alles  Harmoniestörende  ausschalten,  kraft  seiner  Anschauung,  an  der  die  Lebenskunst,  nicht 
nur  die  Malkunst,  ihren  vollen  Anteil  hatte. 

In  der  so  indirekt  und  schlecht  unterrichteten  Aussenwelt  denkt  man,  Lenbach  sei  ein  Mann 
der  Frauen  gewesen,  im  weltlichsten  Sinne.  Unhuldigend  und  huldigend  habe  er  zu  der  grossen 
Schar  der  Schönheiten,  die  zu  ihm  wallfahrteten,  allerlei  Spielarten  von  Beziehungen  gefunden,  wie 
sie  sich  Unwählerische,  Ungesättigte  gerne  vorstellen.  Dem  war  in  Wirklichkeit  nicht  so.  Die 
grosse  Auswahl,  die  täglich  nicht  nur  ihr  schönstes  Kleid  für  ihn  anzog,  sondern  auch  ihr  schönstes 
Gesicht  für  ihn  aufsetzte,  er  sah  sie  im  Durchschnitt  nur  als  Objekte  seiner  Kunst,  als  Modelle. 
Dieser  malerische  Standpunkt  war  von  vornherein  der  bestimmende  in  seinem  Verhältnis  zu  ihnen. 
Er  sah  nicht  das  Gesicht,  das  sie  aufsetzten,  sondern  das,  was  sie  hatten,  und  wenn  ihm  das, 
was  sie  hatten,  sehr  missfiel,  so  setzte  er  ihnen  auch  öfters  in  seinem  künstlerischen  Geschmack 
ein  anderes  auf,  gerade  wie  er  ihnen  meistens  andere  Kleider  malte,  als  sie  anhatten.  Einer  grossen 
Anzahl  von  Frauen  gab  er  den  Ausdruck,  den  er  ihnen  wünschte,  der  auch  vielleicht  im  anregen- 
den Gespräch  mit  ihm  über  ihre  Züge  ging,  ich  brachte  ihm  einmal  eine  zufällig  gefundene 
Federzeichnung  Rembrandts  von  dessen  Frau  mit  der  Aufschrift:  „Einen  Tag,  nachdem  wir  uns  ge- 
zankt hatten."  So  könnte  man  unter  eine  Reihe  Lenbachscher  Frauenporträts  schreiben:  „Wie 
sie  war,  als  sie  mit  mir  sprach."  Sind  doch  die  Gesichter  der  meisten  deutschen  Frauen  wie 
verschleiert,  verschlossen  —  so  dicht,  wie  die  der  Orientalinnen.  Nur  ist  ihnen  der  Schleier,  die 
Decke    der    Schablone,    eingewachsen    durch    den    gewohnheitsmässigen,    anerzogenen    Stillstand 


Franz  von  Lcnbach  pinx. 


Pbot.  r.  Hanistaengl,  Manchen 


Damenbildnis 


r 


Kranz  von  l.eiibach  piiix 


Phol.  F.  Hanistarnitl,  MUnclirii 


Lu  1  u   Hey se 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


175 


F.  c.  Lenbiich.     Blinder  Mann  mit  Kind 


der  Züge.  Das  sogenannte  „gute**  Betragen,  das  der  indivi- 
duellen Natur  der  Frau  von  den  frühesten  Jahren  an  strenge 
Fesseln  auferlegt,  viel  verhängnisvollere,  als  sich  die  Erzieher 
träumen  lassen,  wirkt  verödend  auf  ihre  ZügQ.  Ehe  die  Indi- 
vidualität nur  recht  erwacht,  steht  sie  schon  unter  der  nieder- 
haltenden Macht  dieser  Erziehung,  die  jedes  lebendigere  Mienen- 
spiel eingrenzt,  die  der  Natur  keinen  freien  Spielraum  lässt, 
dies  ihr  Erbgut,  das  sie  so  geheimnisvoll  von  Individuum  zu 
Individuum  zu  tragen  sucht,  unterdrückt. 

Die  Minorität,  die  dem  verhängnisvollen  Einflüsse  der 
Schablonenerziehung  entgeht  und  den  Mut  der  Eigenart  sich 
erhält,  ist  in  der  Minorität,  und  diese  Minorität  verteilt  sich 
in  kleineren  Teilen  auf  die  gute  Gesellschaft  des  Salons  und 
des  Bürgerhauses.  Der  grössere  Teil  gehört  der  guten  Gesellschaft  der  Kunst  an,  zu  der  Lenbach 
jede  Frau  zählte,  die  ehrlich  bei  ihrer  Sache  war,  ob  sie  sang,  wie  Lilian  Sanderson,  schauspielerte, 
tanzte  oder  —  wie  die  Schlangenkönigin  Schlangen  bändigte.  Eine  kleine  Tingeltangelsängerin, 
von  der  er  wusste,  dass  sie  ihre  Mutter  ernähre,  stellte  er  mit  empfehlenden  Worten,  die  in  der 
Umgebung  Ehrerbietung  anschlagen  wollten,  vor  —  und  es  war  wohltuend  zu  sehen,  mit  welcher 
Besorgtheit  er  seinerzeit  das  Gemälde  der  Schlangenbändigerin,  das  er  ihr  schenkte,  als  sie  mit 
der  Hagenbecktruppe  abfuhr,  in  einer  Droschke  durch  seinen  Diener  zum  Zuge  schickte:  „Damit's 
ja  an  das  arme  Hascherl  kommt!"  empfahl  er  immer  wieder. 

Die  Majorität    der  von    der   guten  Erziehung   abgestumpften,    erst   äusserlich,    dann    meist 
auch  innerlich  still  gewordenen  Frauen  bemitleidete  Lenbach  mehr  wie  die,    die  kämpfen  und  für 
sich  einstehen  müssen.     Wie  oft  war  er  von  der   ganzen  Art  dieser  Frauen    enttäuscht,    staunend 
sah  er,  welch   grobe  äusserliche  Mittel  sie 
anwandten,    um   ihre  Schönheit  zu    heben, 
um  zu    gefallen,    unwissend,  dass  nur  das 
seelische    Leben    den    Blicken    das    Feuer, 
den  Zügen    die  Bewegung,    der  Schönheit 
das  Höhere,  auch  das  Höhere  im  malerischen 
Sinne,  gibt.    Bringt  doch  ein  nicht  innerlich 
geführtes   Leben    der    äusseren    Schönheit 
unvermeidlich  böse  Folgen ;  der  Strahl,  den 
nur  die  Jugend   in  ihrem  Jugendglanze  an 
und    für    sich,    unmittelbar    verleiht,    ver- 
schwindet. 

Die  Frau,  die  vorwiegend  grollt,  sich 
langweilt,  gähnt,  nur  bei  Dienstboten  und  f.  c.  i^nbad,.   Dorfstrasse  (Aresing) 


176 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Schneidern  das  Temperament  mittun  lässt,  in  der  Ehe  nur  den  Hafen  des  Müssiggangs,  des  Flirts 
findet,  ihr  Gesicht  wird  immer  leerer,  —  unbewohnt!  Wie  die  grosse  Rahel  von  Varnhagen  sagte: 
„Das  ist  Gerechtigkeit  auf  Erden,  dass,  wie  die  Seelen,  so  die  Züge  werden!" 

Lenbach  sah  auch  über  die  Gesichter  solcher  Frauen  Lichter  und  Schatten  huschen,  sah 
auch  in  ihnen  die  modellierenden  Spuren  von  dem  Lachen  des  Glücks,  von  dem  Weinen  des 
Schmerzes,  das  das  wohl-  und  wehtuende  Leben  jedem  Menschen  bringt.  Wo  aber  das  Spiel  des  Lebens, 
das  mit  seinen  wahren  Geschöpfen  am  kühnsten  spielt,  sein  bildhauerisches  Werk  in  die  Züge 
eingetragen  hatte,  da  gab  er  in  grossen,  wahren  Zügen  dieses  redende  Werk  wieder,  wie  z.  B.  im 
Porträt  von  Frau  Hedwig  Dohm,  einer  Frau,  die  so  aufrichtig  beichtet,  verteidigt,  für  ihre  Erkennt- 
nisse einsteht.  Wie  veranschaulichte  er  den  Schmerz,  den  er  in  der  Seele  und  in  den  Zügen  der 
Dame  in  Schwarz  las,  die  als  trauernde  Frau  ihrer  Trauerklage  durch  Lenbachs  Kunst  eine  Sprache 
gibt,  die  dem  von  ihr  Beweinten  das  dauerndste  Denkmal  setzt  und  lauter  von  Witwentrauer 
spricht,  als  Hunderte  von  Genrebildern,  die  sie  darzustellen  suchen.  Die  nur  schönen  Frauen  ahnten 
wohl  in  den  seltensten  Fällen,  wie  viel  wertvoller  ihm  die  belebten,  die  so  oft  die  alten  waren, 
malerisch  und  menschlich  galten.  Er  gab  der  jungen  Schönheit,  was  ihr  zukam:  sein  Entzücken  am 
„farbigen  Abglanz".  Aber  ihm  als  Mann  und  Mensch  näher,  wirklich  seelisch  nah  zu  treten,  das  war 
nur  wenigen  Frauen  gegeben.  Die  Vielzuvielen,  die  sich  mit  seiner  Gunst  schmücken,  werden  sich  das 
im  Kämmerlein  der  Wahrhaftigkeit  zugestehen  müssen. 

Lenbach  war  kein  genusssüchtiger,  kein  unruhiger  Mann.  In  seinem  gesunden  persönlichen, 
liebenden,  dankbaren  Verhältnisse  zum  Leben  und  zur  Kunst,  das  ihn  ganz  erfüllte,  fand  er  in  dem 
subjektiven  Sturm  und  Drang,  der  ihm  auch  nicht  erspart  blieb,  immer  wieder  sein  Gleichgewicht, 
Mal-  und  Gedankenarbeit,  Befriedigung!  Noch  als  jüngerer  Mann  sagte  er  oft,  wenn  er  sich  aus 
der  lauten  Gesellschaft  der  Huldigenden  zurückzog  und  sie  seinen  Damen  überliess:  „Meine  Frau 
ist  die  Kunst!"  Die  Frauen,  die  er  mehr  oder  weniger  flüchtig  neben  ihr  liebte,  waren  meist 
„unsicher",  wie  er  so  oft  bezeichnend  sagte.     Aber  da  war  die  Stelle,  wo  er  seiner  aufflammenden 

Schönheitsfreude  Opfer  bringen  musste,  wo  er  seine  Lebens- 
gefahren erfuhr.  Ein  goldglänzendes  Haar,  ein  schlanker  Hals 
—  die  übrige  Schlankheit  war  nicht  sein  Geschmack,  er  ging 
auch  darin  mit  den  Alten,  mit  der  Antike  und  Rubens,  —  eine 
ihm  interessante  Teintnüance,  solche  Sehzauber  legten  sich  wie 
farbige  Schleier  über  sein  Urteil.  Er  ermass  erst  dann  die 
Entbehrungen  und  die  Opfer,  die  er  für  solchen  unsicheren 
Zauber  aushielt,  als  er  eine  wahre  Liebesehe  mit  einer  Frau 
schloss,  die  „sicher"  nur  für  ihn  lebte.  Durch  sein  lebens- 
längliches Liebesverhältnis  zu  seiner  Kunst  und  ihrer  freud- 
vollen Arbeit  ward  er  sich  seiner  früheren  seelischen  Ent- 
behrungen nur  zeitweise  bewusst.  Er  wich  auch  diesem  Be- 
Zi r.  Leubiidi.   Kopf  eine»  Bauern  wusstsein  mit  allen  Möglichkeiten  seiner  Lebensanschauung  und 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


177 


F.  t.  Lcnbach.     Knecht  und  Magd  vom  Heimathofe 
des  Meisters 


Lebenskunst  aus.  Verfolgen,  aburteilen,  richten, 
gar  strafen  war  nicht  seine  Sache.  Der  Gemein- 
heit wich  er  aus,  „den  Regenschirm  aufspannen, 
wenn's  regnet",  sagte  er  und  spannte  den  breiten, 
dachstarken  Schirm  seiner  unabhängigen  Lebens- 
anschauung auf  —  und  malte!  Er  hätte  gern 
immer  Sonnenschein  gehabt,  aber  er  verlor  keine 
Kraft  an  utopische  Wünsche,  er  suchte  sich  ein- 
zurichten. Als  ihn  eines  Tages  eine  Missionärin 
des  Weltfriedenvereins  für  ihre  Sache  gewinnen 
wollte,  stimmte  er  scheinbar  zu :  „Ja,  ja,  i  will 
schon  Mitglied  werden !  Da  sorgen's  aber  zuerst, 
dass  sich  die  Fische  unterm  Meeresgrund  nicht 

mehr  fressen,  da  geht's  auch  zu  wie  bei  den  Geheimräten  über  dem  Meeresgrund  I  Und  dann 
gründen  Sie  gleichzeitig  einen  Verein  gegen's  Regenwetter.  Wenn  das  geschehen  ist,  dann  helf 
ich  dem  Weltfrieden." 

Im  Grunde  seiner  fühlenden  Seele  wusste  er  zu  viel  vom  Lebenskrieg.  Er  hatte  das  wahre 
Buddhamitleid  mit  allem,  was  leidet.  Wenn  er  bei  nächtlichen  Heimwegen  Kanalarbeiter  sich 
plagen  sah,  griff  er  tief  in  seine  Tasche.  Beim  Anblick  eines  Stiergefechtes  in  Spanien  fiel  der 
starke  Mann  tatsächlich  in  Ohnmacht.  Wenn  ihm  ein  geknebeltes  Tier  begegnete,  wenn  er 
eine  Gruppe  von  den  stummen,  uns  verfallenen  Tieren  in  einen  Waggon  eingepfercht  sah,  brauchte 
er  immer  eine  Zeit,  sich  von  dem  Mitleidsweh  zu  befreien,  wieder  zur  künstlerischen  Lebensfreude 
zu  gelangen.  Dies  tiefe  Schauen  vom  Weh  der  Kreatur,  das  war  es,  was  seine  Lebensanschauung 
zu  einer  so  grosszügigen,  zu  einer  urchristlichen  machte.  Jeder  Existenz,  jeder  Individualität 
ward  er  gerecht,  er  verfiel  nie  in  den  unheilvollen,  allgemeinen  Fehler,  den  anderen  nach  dem 
eigenen  Mass  und  Geschmack  zu  beurteilen.  Die  mit  ihren  Prinzipien  massen,  die  zählte  er  zu 
den  Ungerechten.  „Was  helfen  Prinzipien",  meinte  er,  ,,die  hat  man  wie  gesattelte  Pferde  im 
Stall  stehen,  und  wenn  sie  ein  Temperamentsmensch  reiten  will,  werfen  sie  ihn  ab.  Und  der 
echte  Prinzipienreiter  verfüttert  sein  bisschen  Verstand  für  sie".  Wer  wie  Lenbach  in  sich  die 
Buddhakraft  trug,  die  zu  empfinden  zwingt:  „Der  andere  bist  Du",  der  beruhigt,  versteht,  beschenkt, 
was  zu  ihm  kommt.  Aber  er  bedarf  vor  der  Gewalt  des  Mitleids,  vor  dem  Schrecken  des  eigentlichen 
Wissens  der  Weltflucht!  Und  Lenbachs  Weltflucht  war  seine  Kunst.  Ihm  war  es  vor  seiner  Staffelei 
so  wohl,  ob  sie  in  Schrobenhausen,  in  Aresing,  in  Weimar,  in  den  Sälen  des  Prado,  in  Madrid 
oder  in  Makarts  Nebenzimmer  in  Wien,  in  Varzin  und  Friedrichsruh  oder  im  Palazzo  Borghese 
in  Rom  oder  in  seinem  königlichen  Atelier  in  München  stand.  Von  ihm  gilt,  was  er  von  Makart 
sagte:  „Weisst,  wenn  dem  sein  Haus  und  sein  Atelier  abbrennt  und  man  stellt  ihm  einen  grossen 
Käfig  in  den  Garten  und  Staffelei  und  Leinwand  und  alles  dazu,  so  geht  er  in  den  Käfig  hinein 
und  malt  ruhig  weiter". 


178 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


F.  V.  Lenbavh.    Sonnenbad 


Schaffen,  künstlerisch  Schaffen  war  Lenbachs  alle  Kämpfe 
und  alle  Depressionen  überwindende  Lebensfreude.  Wenn  man 
nach  Monaten  in  sein  Atelier  kam  und  neben  seiner  grossen 
Kunst  auch  die  grosse  Zahl  der  entstandenen  Werke  bewunderte, 
meinte  er:  „Das  ist  doch  nicht  zum  Staunen,  ich  tu'  ja  auch 
nix  als  malen".  Er  war  schwer  zu  anderem  Tun  zu  überreden. 
Nur  wenige  weltliche  Vergnügungen  lockten  ihn.  Das  heutige 
Theater  fand  er  grob  in  seiner  Ausstattung,  die  „Spritzlichter" 
waren  ihm  entsetzlich,  die  grellen  Theatereffekte  beleidigten  sein 
Schönheitsgefühl,  gingen  gegen  das,  was  er  den  „Takt"  in  der 
Kunst  nannte.  Von  den  Konzerten  hielten  ihn  die  langen,  zu- 
sammenhanglosen Programme  zurück.  Zu  Spaziergängen  hatte 
er,  dem  Tätigkeit  Freude  war,  keine  Geduld.     „Die  Berge  achte 

ich,  aber  ich  liebe  sie  nicht",  sagte  er.  Wenn  man  ihm  die  gesundheitliche  Bedeutung  des 
Spazierengehens  vorstellte  und  ihn  dazu  überreden  wollte,  zitierte  er  gerne  den  Schrobenhauser 
Schuhmachermeister,  der  nie  ausging  und  sechsundachtzig  Jahre  gesund  blieb. 

In  all  seiner  hohen  persönlichen  Kultur  blieb  er  in  den  Lebensgebräuchen  der  einfachste, 
bedürfnisloseste  Mensch.  In  der  Jugend,  nach  einer  schweren  Erkrankung,  lebte  er  jahrelang  von 
Milch  und  Brot,  trennte  sich  dann  schwer  von  der  vegetarischen  Nahrung  und  sprach  oft  und 
immer  mit  Begeisterung  von  dem  Hausbrot,  das  seine  Mutter  damals  buk.  Während  seines  ersten 
italienischen  Aufenthalts,  der  Landessprache  nicht  mächtig,  bestellte  er  sich  mit  dem  Worte  „anche" 
sein  „Manzo"  (Rindfleisch)  und  Risotto.  Und  lebenslänglich  zog  er  ein  Suppenfleisch  allen 
Delikatessen  vor.  Seine  einfache  Lebensweise  trug  sicher  ein  gutes,  segensvolles  Teil  zu  seiner 
Krafterhaltung  bei.  Schaffte  er  doch  mit  den  kürzesten  Unterbrechungen  von  morgens  bis  abends, 
immer  geistig  beschäftigt,  gepackt,  interessiert!  Und  allem,  was  ihn  interessierte,  ging  er  auf  den 
Kern.  Er  besass  die  umfassendste  Kenntnis  aller  bildenden  Kunstschätze  Europas,  er  vertiefte  sich 
in  die  Betrachtung  ihrer  Nachbildungen,  in  die  Biographien  ihrer  Meister,  und  was  ihn  freute,  trug 
er  unter  sein  Dach.  Gute  Nachbildungen  schätzte  er  hoch  ein.  An  seinem  Geschmack,  an  seinem 
angeborenen,  unbeirrbaren  Schönheitssinn   hatte  er  den  auserwähltesten  Führer.     Wohin  der  nicht 

mitging,  drehte  er  um.  Wo  er  aber  hinführte,  da  ward  Len- 
bach  kein  flüchtiger  Gast,  da  blieb  er  aus  Liebe.  Und  was 
ihn  interessierte,  das  liebte  er,  in  dem  Sinne,  dass  er  seine 
ganze  freudige  Wärme  einsetzte,  ein  Zusammenhang,  der  in 
seiner  gefühlsstarken,  unmittelbaren  kindlichen  Natur  begründet 
war.  An  Lenbach  bestätigt  sich  deutlich  die  scheinbar  gewagte 
und  doch  aus  der  Wahrheitsquelle  der  Erfahrung  geschöpfte 
Erkenntnis:  dass  ein  sicherer  Massstab  für  das  echte,  natürliche 
F.  r.  Liiihiiih.   Der  rote  Schirm  Ufwcsen  eines  Menschen  in  dem  lebendigen  unmittelbaren  Besitz 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


179 


von    Kindlichkeit   besteht,    den    ihm    die   Kultur   nicht   entreissen    konnte.     Lenbach    hat   innerhalb 
seiner   mächtigen  Entwicklung   das   Kindliche   behalten,    das  ja   auch   zugleich    das   Unbefangene, 
Vorurteilslose,  Gütige,  Liebevolle  ist.     Keine  noch  so  scharfe,  intellektuelle  Fähigkeit  —  so  sicher, 
wie  seine  Brille,  benützte  er  seine  Intelligenz,  —  entfernte  ihn  von  der  Schätzung,  die  sein  Gefühl 
ausgab,  so  oft  er  auch  bei  dieser  Schätzung  in  Veriust  geriet,  betrogen  und  ausgenützt  wurde.    Er, 
der    zu    einer    leichtgläubigen    Optimistin,    die    sich    einen    wohlbedachten    Tauschvorschlag,    im 
Glauben,  es  sei  ein  freundschaftliches  An- 
erbieten,   an    ihn   auftragen   liess,    lachend 
sagte:     „Ein    Schutzengel    hast,    wie    ein 
Hausknecht!"    Er  hatte  einen  herkulischen 
Schutzengel.    Aber:  das  grosse  Fazit  seines 
Lebens  sprach  zu   seinen  Gunsten,  ein   so 
warmer  Mensch   wagt    mehr,    aber   er  ge- 
winnt   auch    mehr.     Im    Gewinn    und    im 
Verlust  ward  auch  Lenbach  der  Reiche  in 
sich.     Er  führte  eben  nicht  den  kleinlichen 
Haushalt,  in  dem    nur  das    kleine  Einmal- 
eins, das  Mein  und  Dein,  das  täglich  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  geordnet  sehen  will, 
die  ökonomische  Wirtschaft  bestimmt.    Er 
rechnete   mit   der  Einsicht    in    den  Gross- 
betrieb des  Lebens,  an   ihm  gemessen  sah 
er  das  Eigene  in  verjüngtem  Massstab  und 
ward  durch   den  Ideengang,   zu  dem    sein 
Fühlen  und  sein  Erkennen  führte,  der  ver- 
söhnenden Überlegenheit  teilhaftig,  die  zugleich  Bescheidenheit  ist,  die  „sich  bescheidet."   Vermöge 
seiner   grossen  Lebensanschauung,    die   die  Unabänderlichkeit   der  Dinge   schauernd   einsah,    wich 
er  dem  Weltschmerz  aus.     Er  spielte!    spielte   so   lustig   und    interessiert   mit  der  Kunst,   mit  der 
Natur,  mit  den  Karten.     In  der  historischen  Allotria,    wo  er   viele   seiner  Feierabende    verbrachte, 
wo  klassische  Zeugen  seines  Humors,  wie  das  Gemälde  des  Fisches   und   der  Henne,   die  Wände 
schmücken,  da  tanzte  sein  Witz  über  alle  irdischen  Dinge  hinweg,  da  lachte  er  über  das  Kunter- 
bunt des  Welttheaters  und  —  spielte.     Wer  auch   mit  ihm   tarokte,  ob  dieser  verlor  oder  gewann, 
menschlich  gewann  er  immer. 

Das  Welttheater!  Wer  von  seinen  Zeitgenossen  kannte  es,  wie  er?  Er  kannte  die 
Bühne  und  die  Kulissen,  die  Throne  und  die  Versenkungen,  die  Übeltäter  und  die  Helden, 
die  Statisten  und  die  Souffleure.  Wenn  er  mit  dem  tiefen  Ernst  seiner  Erkenntnis  in  das 
Welttheater  hineinsah,  wenn  er  davon  sprach,  erfassten  ihn  so  echt,  so  erschütternd,  wie  es 
die   antike  Tragödie   hervorruft,    Schrecken  und   Mitleid.     Er    flüchtete,    um    sie    zu    vergessen,  er 

XVI  27 


F.  V.  Lenbach.    Landleute  vor  einem  Unwetter  flüchtend 


ISO 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


vergass  sie  an  seiner  Kunst.  Er  spielte!  Wie  Wilbrandt  von  ihm  sagt:  „zuerst  von  einer  grossen 
Erscheinung  stark  gepacict,  tief  erfüllt,  dann  die  zum  Sehen  geschaffenen  Augen  mit  berufsmässigem 
Ernst  und  Eifer  spannend,  dann  frisch  in  einen  Genuss  hineintauchend,  zuletzt  mit  ansteckender  Satyr- 
fröhlichkeit seine  unzerreissbare  Fahne  schwenkend,  den  göttlichen  Humor,  der  ihm  noch  jedes  Erden- 
leid unter  die  Füsse  zwang."  Er  spielte,  aber  mit  tiefem  Sinn  und  Sinnen.  Sein  Geist  verband  ihn 
intim  mit  allem  Verwandten.  Von  Tizian  und  Rubens,  von  Velazquez,  von  Reynolds  sprach  er  wie  von 
Menschen,  mit  denen  er  entzückt,  begeistert,  unter  ihrem  Einfluss  stehend  eben  verkehrte,  wärmer, 
unmittelbarer  als  von  den  Kollegen,  mit  denen  er  äusserlich  lebte.  Alles,  was  je  über  sie 
geschrieben  wurde  —  das  Memoirenhafte,  unmittelbar  von  ihnen  Kommende,  zog  er  vor,  —  hatte 
er  gelesen.  Mit  der  tiefsten  Gründlichkeit  hatte  er  ihre  Werke  geschaut,  ihre  Entwicklung  verfolgt. 
In  ihre  Technik  drang  er  ein,  wie  in  ihr  persönliches  Leben.  Er  liebte  sie  mit  dem  leidenschaft- 
lichen Feuer,  mit  dem  die  warme  Seele  das  einmal  Erkannte,  Bewährte,  das  ihr  wirklich  Verwandte, 
Fruchtbare,  Treue  festhält  und  feiert.  Wie  konnte  er  seine  alten  Meister  immer  wieder  bewundern, 
mit  Andacht  und  Ehrfurcht!  Wie  wies  er  immer  wieder  auf  die  unsterbliche  Schönheitsgewalt 
und  auf  die  unsterbliche  Lehrkraft  ihrer  Werke  hin,  wie  rief  er  sie  auf,  als  die  Modernen  eine 
neue,  von  ihnen  losgelöste,  ganz  befreite  Kunst  auf  ihre  Kriegsfahne  schrieben !  Wie  ordnete  er 
sich  den  alten  Meistern  unter!  Als  ich  ihm  eines  Tages  von  einem  jungen  Künstler  die  Ver- 
sicherung bestellte,  er,  Franz  von  Lenbach,  sei  und  bleibe  sein  Ideal,  frug  er  mit  seinem  reizenden 
Humor:  „Meinen  Sie's  gut  mit  dem?  Sagen  Sie  ihm,  er  soll  sich  gscheidter  an  Tizian  halten". 
Er  hielt  sich  durch  sein  ganzes  Leben  und  Schaffen  hindurch  an  Tizian,  an  Rembrandt,  an 
Rubens,  an  alles  Grosse  der  alten  Kunst  und  an  die  Urquelle,  von  der  sie  nicht  trennt,  sondern 
zu  der  sie  führt,  an  die  Natur.  Auch  in  diesem  Sinne  blieb  sein  Leben  eine  harmonische  Einheit. 
Seine  Wesensart  löste  alles  in  sie  auf,  und  wenn  man  seine  Entwicklung  überschaut,  nichts  stört 
diese  Einheit.  Aus  jeder  Meinung,  aus  jedem  menschlichen  und  künstlerischen  Tun  spricht  sie  ihre 
Sprache.  In  allen  Enwicklungsphasen,  in  allen  Arbeiten,  in  allen  Kämpfen  und  Enttäuschungen, 
in  allen  Erfolgen  blieb  er  sich  im  Wesensgrunde  gleich,  an  allem  erstarkte  seines  Wesens  Einheit, 
dieser   gesunde   Urboden  liehe  Dezembernacht  war 

seiner  Kunst.  ^^|Hi^flHl  '11       ^s*    ^'^    '"^    Weihnachts- 

Es    war  ein    warm-       ^^i^^g-  3Wfca^^  monat    des   Jahres    1836 

herziges,  energisches  und       IH      ^^^^B^M^L^^^HI^  ^       Lenbach    „das  Licht   der 

lebenslustiges  Kind,  dieses       ,^     ä^^^^^^^^^^^Vw^  Weit"     erblickte.      Diese 

Landbaumeisterskind  ■jj^^^^^^^^^^V^       ^-  ^^^'     Kinderaugen, 

Schrobenhausen,das  unter       ^^^^^^^^^^H^^JÜBM^ -Aji^  waren  berufen   und  aus- 

sechzehn  Geschwistern  in       ^^^^H^^^^^Ea  ^^^  erwählt,    das   Licht,    die 

den    bescheidensten  Ver-       ^^|^^^^^^^vHr^lH|^  Sonnenseite    dieser   Welt 

wahren  ^^■^^^^^^■|m|^^^^F  zu 

Sinne  des  Wortes  „gross"        FJI^H^^HJJ^^^^HHBIIHshM        grundlegender  erziehe- 
wurde.      Keine    Werktag-  /".  r.  uubarh.   Kseistudie  rischer  Lebenssegen  Len- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


181 


bachs  gewesen  sein,  dass  er  in  der  länd- 
lichen Stille  eines  von  malerischen  Mauern 
und  Türmen  umgebenen  Städtchens  auf- 
wuchs, das,  wie  er  gern  sagte,  nicht  viel 
grösser  war  als  der  Münchener  Glaspalast. 
Kein  Talententdecker  tauchte  glücklicher- 
weise in  dem  weltfernen  Neste  auf.  In  dem 
kinderreichen  Hause  des  Landbaumeisters 
Lenbach    ward    dem    einzelnen    keine    Be-  l^"'^^'^''  ""^  ^'^'"'^  Reisegesellschaft  in  AKypto. 

obachtung  zuteil,  die  Individualität  behielt  ihre  pflanzliche  Ruhe.  Zu  der  pflanzlichen  Ruhe,  zu 
dem  ungestörten  Einsaugen  von  Luft  und  Licht,  zu  dem  Raufen  und  Spielen  im  Freien,  das 
Lenbach  ein  lustiges  Räuberleben  nennt,  bei  dem  es  auf  ein  paar  Löcher  im  Kopf  nicht  ankam, 
traten  die  einheitlichen  Eindrücke,  die  des  Vaters  Handwerk  mit  sich  brachten.  Von  diesem  Vater 
gingen  die  stärksten  Eindrücke  aus,  die  das  Kind  und  der  Knabe  Franz  empfingen.  Natürlich 
sah  der  Knabe  dem  intelligenten  Vater  beim  Hantieren,  beim  Zeichnen  und  Bauen  zu,  und  sein 
Sinn  für  rhythmische  Bewegungen  und  feste  Normen  wurde  ohne  jede  unterbrechende  Zerstreuung 
auf  einheitliche  Art  geweckt.  Der  weise  erfahrene  Erzieher  würde  keine  andere  Methode  wählen : 
die  Anschauung  einer  Tätigkeit,  die  dem  Kinde  nur  Fassbares  im  Spiel  einfacher  Erscheinungen 
zeigt,  in  denen  eine  Zweckmässigkeit  zu  so  sichtbarer  gesetzmässiger,  rhythmischer  Geltung 
kommt,  wie  beim  Bauen;  „wo  eins  das  andere  sicher  trägt,  wo  die  Gemeinschaft  Kraft  zu  Kraft 
vereint."  Diese  gesunde  Schulung  der  kindlichen  Anschauung  wurde  von  der  Schrobenhauser 
Lernschule  nicht  gestört. 

Eine  unbegrenzte  Ungebundenheit  zu  Gunsten  seiner  gesunden  inneren  Entwicklung  genoss 
er   bis   zu    seinem    elften  Jahre,    bis   ihn  sein  Vater  in  die  Gewerbeschule  nach  Landshut  schickte. 

Erst  da  lernte  Lenbach  eigentlich  lesen 
und  schreiben.  Es  ist  charakteristisch  für 
ihn,  dass  er  in  der  Religion  schwach  be- 
funden wurde,  sich  aber  in  der  Mathematik 
auszeichnete. 

Als  Lenbach  mit  vierzehn  Jahren  in 
sein  Elternhaus  zurückkehrte,  beschäftigte 
ihn  sein  Vater  beim  Plänemachen  und 
Bauen ;  das  Bauen  freute  ihn  mehr  als  das 
Plänezeichnen;  an  einer  Kapelle  durfte  er 
zu  seiner  Freude  selbständig  eine  Mauer 
aufführen.  Die  Handwerkstätigkeit  hielt  ihn 
nicht  fest,  sie  genügte  dem  erwachenden 
Maler  nicht.  Ermutigungen  und  Förderungen 


Lenbacli  und  seine  Reisegesellschaft  in  Ägypten 


182 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


F.  r.  Lenbacli.    Flucht  nach  Ägypten 


trug  ihm  der  Zufall  zu.  Ein  altes  Bild, 
eine  Kreuzabnahme  von  Christof  Schwarz, 
eines  Ingolstädters  aus  dem  16.  Jahrhundert, 
kopierte  er  so,  dass  es  kaum  von  dem 
Original  zu  unterscheiden  war.  Aber  erst 
der  Tod  seines  Vaters  brachte  die  äussere 
Entscheidung,  die  Wahl  des  Malerberufes. 
Der  erste,  der  Regel  folgende  Schritt  führte 
ihn  in  die  polytechnische  Schule  nach 
Augsburg.  Aber  wie  tot  war  ihre  Lehre 
gegen  die  freie  Wald-,  Wiesen-  und  Gassen- 
schule von  Schrobenhausen,  wie  wenig  bedeuteten  ihm  die  mühseligen  Zeichnungen  nach  Julien- 
schen  Lithographien !  Als  Sonntagsfreude,  als  Erholung  versuchte  er,  in  Ol  zu  malen.  In  einem 
Nadlergesellen,  der  eine  grössere  technische  Erfahrung  hatte,  fand  er  einen  Kameraden.  Er  blieb 
nicht  bei  ihm,  er  vcrliess  den  Zeichenlehrer  wie  ihn;  er  flüchtete  sich  zu  den  Alten  in  der  Augs- 
burger Galerie  und  kopierte.  Lange  hielt  er  dieses  der  Natur  abgewandte  Tun  nicht  aus.  Ihn 
zog  es  nach  Schrobenhausen  zurück  in  die  Freiheit,  in  die  Nähe  des  Malers  Hofner,  der,  nur 
vier  Jahre  älter  als  Lenbach,  auch  ein  Maurersohn  aus  dem  bei  Schrobenhausen  gelegenen  Dorfe 
Aresing,  ein  starker  Anziehungspunkt  für  Lenbach  war.  Hofner  hatte  schon  eine  gewisse  Kunst- 
übung voraus  und  konnte  Lenbach  technisch  anleiten. 

Das  kleine  Gemälde,  „Der  erste  Versuch  nach  der  Natur  in  Öl",  wie  Lenbach  selbst  an 
das  Bildchen  schrieb,  ist  ein  Zeuge  seiner  künstlerischen  Kraft,  sein  erster  verheissungsvoller 
Schritt  auf  dem  Wege  zur  eigenen  Kunst.  Achtzehn  Jahre  war  Lenbach  alt,  als  er  dieses  malte. 
Damals  hielt  er  Hofner  für  den  Talentvolleren.  Nur  fiel  ihm  allmählich  auf,  wie  sich  Hofner  mehr 
quälte  als  er.  E  r  malte  mit  ununterbrochener  Leichtigkeit  und  Lust.  V/as  ihm  nicht  genügte, 
stellte  er  zurück  und  fing  Neues  an.  Alles  Getane  war  ihm  ein  Ansporn  fürs  Kommende. 
Er  malte  alles,  alles,  was  ihm  unter  die  Augen  kam,  wie  er  selbst  sagt :  „Pferdehufe,  ganze  Pferde, 
halbnackte  Bauernjungen  oder  auch  bloss  ihre  Beine  und  Füsse,  wenn  sie  diese  von  einem  Zaune 
oder  einer  kleinen  Erhöhung  herabschlenkern  Hessen,  wo  es  starke  Schlagschatten  gab.  Mit  Vor- 
liebe malte  ich  auch  halbverfallene,  zu  den  Bauernhäusern  emporführende  Steintreppen  in  starker 
Beleuchtung.  Besonders  gefielen  mir  auch  die  grossen  Strohhüte  und  Sensen  der  Bauern ;  ich 
malte  mit  einem  Worte  alles  Mögliche  mit  einer  wahren  Leidenschaft  und  rastlosem  Fleisse.  So 
kam  es,  dass  ich  schon  mit  sechzehn  Jahren  mein  Brot  als  Maler  zu  verdienen  anfing.  Ich  malte 
alles,  was  vorkam,  besonders  Votivbilder.  War  irgendwo  ein  Unglück  geschehen  oder  ein  Bäuerlein 
aus  drohender  Lebensgefahr  errettet  worden,  so  musste  ein  Bild  nach  Altötting  gestiftet  werden. 
Auf  so  einem  Bilde  standen  oder  knieten  wie  Orgelpfeifen  der  Bauer,  die  Bäuerin  und  die  Kinder 
nach  der  Grösse  aufgestellt.  Ich  bekam  einen  ganzen  Gulden  per  Kopf  und  das  machte  bei 
fruchtbaren  Familien  oft  eine  recht  hübsche  Summe.    Mein  Ideal  war  damals,  täglich  einen  Gulden 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT  183 

zu  verdienen,  und  ich  war  dabei  viel  glücklicher  als  später,  wo  mir  die  Gulden  viel  zahlreicher 
ins  Haus  kamen.  Ich  malte  nicht  bloss  Votivbilder,  sondern  auch  Porträts,  Schützenscheiben, 
Rahmen,  Schilder  und  anderen  Kram  dieser  Art." 

Der  Begnadete,  der  Auserwählte  hat  eine  Stimme  in  sich,  die  nicht  verstummt,  die  stärker 
ist,  als  alle  wirklichen  Stimmen  der  Aussenwelt,  die  sich  wie  eine  treibende  Kraft  über  alle  Tages- 
stimmen hinaus  geltend  macht,  die  wie  ein  Columbusglaube  führt! 

Diese  führende  Stimme  gab  Lenbach  alle  Energien,  die  ihn  „seinen"  rechten  Weg  finden  lehrten. 
Sie  war  es,  die  ihn  morgens  um  vier  Uhr  weckte,  ihn  einen  fast  sechzehnstündigen  Fussmarsch, 
den  er  oft  barfuss  ging,  nach  München  zurücklegen  liess,  manchmal  nur,  wenn  er  besonderes 
Verlangen  hatte,  seine  Lieblinge  in  der  alten  Pinakothek  zu  sehen.  Wie  ein  Gläubiger  vor  den 
Hochaltar,  so  ging  er  zu  ihnen.  Es  ist  ein  Bild  voll  Wirklichkeitspoesie:  der  grosse,  elastische 
blonde,  jünglinghafte  Mann,  der  fliegenden  Schrittes  die  stille  Strasse  geht,  nach  dem  Wahrzeichen 
Münchens,  den  Frauentürmen,  ausspähend,  schöne  Bilder  als  Wegziele  im  Sinn.  Die  frommen 
Märchen  von  wegweisenden  Engeln,  von  führenden  Sternen,  von  dem  überirdischen  Vogel,  der 
neben  dem  wandernden  Knaben  herfliegt  und  ihm  ins  Ohr  singt:  „Wandre  nur  zu,  König  wirst 
Du!",  alle  die  Wunder,  durch  die  der  Mensch  der  geheimnisvollen  Gewalt  einer  inneren  Stimme 
Gestalt  geben  möchte,  werden  bei  der  Vorstellung  dieses  frohen  Wanderers  wach.  Er  war  glücklich 
unter  der  Führung  dieser  Stimme.  Er  fühlte:  „Die  führt  zu  meinem  Land,  zu  meinem  Paradies, 
ich  mal'  es  mir".  Es  war  die  Zeit  einer  köstlichen  Selbstentdeckung,  die  dem  Begnadeten  offenbart: 
Wo  Dein  Wille  ist,  da  ist  Deine  Kraft,  —  fern  von  dem  schrecklichen  Zwiespalt,  mehr  zu  wollen 
als  zu  können. 

Und  alles  Können  kam  über  Lenbach  wie  eine  Gnade.  Welche  freie  Sicherheit  spricht  aus 
der  Zeichnung:  „Bei  der  Nacht  hab'  ichs  gemacht",  welch  ein  Finden  und  Geben  des  Wichtigen  ! 
Welche  Kraft  offenbart  sich  in  den  frühesten  Porträts  seiner  Umgebung,  aus  denen  der  Bauern  und 
Dienstboten !  Was  an  Leibl  als  höchstes  Resultat  mühevollster  Arbeit,  als  Ereignis  gerühmt  wird, 
da  ist's  getan,  spielend  und  malerischer  getan !  Es  war  die  innere  Stimme  oder  der  herkulische 
Schutzengel,  der  Lenbach  immer  wieder  nach  Schrobenhausen-Aresing  zurückführte.  Kurze 
Stationen  in  einer  Bildhauerwerkstätte,  im  Atelier  des  badischen  Hofmalers  Gräfle,  eines  Schülers 
Winterhalters,  trugen  nur  zu  seiner  energischen  Rückkehr  zur  Natur,  zu  seiner  Selbständigkeit  bei. 

Einen  Teil  der  da  entstandenen  Studien  brachte  Lenbach  eines  Tages  zu  dem  damaligen 
Grossen  von  München,  zu  Piloty.  Dieser  forderte  ihn  sofort  zum  Eintritt  in  seine  Schule  auf, 
die  Lenbach  während  zweier  Winter  besuchte;  im  Sommer  blieb  er  auf  seinem  Lande  im  Freien, 
in  der  Sonne.  In  der  Zeit,  die  er  zum  Teil  in  der  Pilotyschule  verbrachte,  malte  er  die  zwei 
Bilder:  Bauern,  die  sich  vor  einem  Gewitter  in  eine  Kapelle  flüchten,  und  den  Titusbogen.  Das 
Bauernbild  stellte  er  im  Münchener  Kunstverein  aus  und  erhielt  dafür  450  Gulden,  mit  dieser 
Summe  noch  ein  Staatsstipendium  von  500  Gulden.  Vermöge  dieses  „Reichtums"  konnte 
er  den  Traum  einer  Reise  nach  Italien  verwirklichen,  Piloty  begleiten!  Welche  ersehnte  bunte 
Fahrt,    mit    der   Post    nach    Innsbruck,    Verona,    Mantua,    Bologna,    Florenz,    Rom!    —    „In    dem 


184  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

für  mich  bedeutungsvollen  Jahre  1858  erlebte  ich  also  meine  zwei  ersten  Monate  in  der  ewigen 
Stadt,  ich  muss  gestehen,  dass  ich  damals  in  eine  Art  Sonnenfanatismus  hineingeriet,  wie  jetzt 
die  Parole  , Licht,  mehr  Licht !'  Mode  geworden  ist.  Es  war  ein  famos  farbiges  Treiben,  was  mir 
damals  vorschwebte  und  woraus  das  grosse  Bild  ,Der  Titusbogen'  entstanden  ist.  Ich  stellte 
dar,  wie  in  aller  Frühe  die  Campagnolen  durch  den  Bogen  ziehen  —  so  ungefähr  ä  la 
Robert  —  ein  Vorgang,  der  mir  ausserordentlich  gefiel.  Immer  zwischendurch  in  diesem 
begeisterten,  ja  fanatischen  Studium  nach  der  Natur  habe  ich,  wie  ein  kleiner  Verbrecher, 
der  sich  dunkel  bewusst  ist,  dass  er  auf  unrechtem  Pfade  wandelt,  nach  meinen  geliebten  Museums- 
gefangenen, den  Werken  der  grossen  Meister  hinübergeschielt  und  habe  Velazquez,  Giorgione, 
Tizian  u.  a.  im  geheimen  als  meine  Heiligen  angebetet;  diesen  Halbgöttern  gegenüber  war  ich  aber 
durch  mein  praktisches  Tun  in  eine  schiefe  Stellung  geraten."  Diese  charakteristische  Schilderung, 
die  eine  wahrhaftige,  zu  der  Kenntnis  des  Malergeistes  von  Franz  von  Lenbach  grundlegende  Skizze 
aus  einem  bedeutenden  Moment  seiner  Entwicklungsgeschichte  ist,  gibt  dem  Bilde  des  Titusbogens 
einen  wertvollen,  interessanten  Hintergrund  und  bezeichnet  mit  seinen  eigenen  Worten  sein 
dauerndes  Verhältnis  zur  Natur  und  zur  Kunst,  wie  er  immer  weise  und  temperamentvoll  zugleich 
abwog  und  keiner  der  beiden  geliebten  Grossmächte  untreu  werden  konnte.  Mit  den  grossen  Ein- 
drücken aus  Italien  kehrte  er  in  die  bayerische  Dorfheimat  zurück.  Die  italienischen  Kinder,  die  er 
als  Staffage  seines  Titusbogens  brauchte,  malte  er  in  Aresing.  „Um  sie  als  kleine  Italiener  malen 
zu  können,  musste  ich  mir  die  germanischen  Knirpse  von  Aresing  erst  braun  brennen.  Die  Jungens, 
denen  ich  königliche  Geschenke  machte  (6  bis  12  Kreuzer),  begeisterten  sich  für  mein  Projekt 
und  lagen  tagelang  in  der  Sonne,  bis  ihnen  die  Haut  abging.  Einer  von  diesen  Gebrannten, 
gemalt  im  Jahre   1859,  hängt  in  der  Schack-Galerie.     Solche  Bilder  malte  ich  damals  viele." 

Von  diesen  vielen  sind  köstliche  in  der  Lenbachausstellung  zu  sehen,  voll  Sonnenlicht,  wie 
das  der  Strasse  von  Aresing,  wie  das  der  beiden  Knaben  am  Rain,  wie  das  sonnengoldene  Bild 
mit  dem  roten  Schirm.  Den  roten  Punkt,  ob  er  ihn  in  der  Mütze  des  Bauernjungen  fixiert  oder 
in  dem  aufgespannten,  roten  Schirm,  er  hielt  ihn  fest,  den  geliebten  Brenn-  und  Feuerpunkt  in 
seiner  Farbenskala. 

In  diese  sonnenfreudige  Zeit  der  Freilichtmalerei,  die  seine  freigewählte  Naturschule  war, 
fiel  der  Ruf  Franz  von  Lenbachs  an  die  Kunstschule  in  Weimar.  Piloty,  der  ihn  vorgeschlagen 
hatte,  Hess  ihm  die  überraschende  Nachricht  durch  einen  athletischen  Boten  mitteilen  und  um 
sein  schleuniges  Kommen  bitten.  Und  Lenbach  im  Vollgefühl  seiner  körperlichen  Kraft  rannte 
mit  dem  Riesen  und  dem  Stellwagen  um  die  Wette  nach  München.  Auf  halbem  Wege  ward 
der  Riese  lahm,  —  neun  deutsche  Meilen  wollen  gerannt  sein,  —  aber  Lenbach  huschte 
weiter,  „wie  ein  Wiesel".  Er  hatte  Freude  an  seiner  Schnell-Laufkraft,  eine  Freude,  die  oft  zum 
Ausdrucke  kam,  auch  als  er  mir  erzählte,  wie  ihm  eines  Tages  in  Neapel,  als  er  an  einem  Vorfenster 
stand,  die  Brieftasche  mit  seinem  ganzen  Reisegeld  gezogen  wurde.  Er  sei  dem  gewandten  Dieb 
nachgerannt,  ohne  ihn  zu  erwischen.  Ich  frug,  ob  er  sich  geärgert  habe?  „Nein,  gefreut  hab' ich 
mich,  dass  ich  so  laufen  kann  I" 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


185 


So  lauffroh  ging  er  seiner  Professur  entgegen,  die  ihn  aber  nicht  lange  hielt.  Er,  mit  Böcklin 
und  Begas,  die  zugleich  mit  ihm  berufen  waren,  kamen  zu  früh  in  die  Goethestadt,  die  neue 
Schule  war  noch  nicht  fertig.  Sie  sahen  sich  die  Umgebung  an,  entdeckten  auch  gute  Tropfen 
und  debattierten  im  Freien  und  unter  Dach  über  die  Kunst  und  ihre  Geheimnisse.  Nach 
anderthalb  Jahren  trieb  Lenbach  die  Erkenntnis  fort,  dass  er  lernen  müsse,  anstatt  zu  lehren. 
Und  wie  viel  er  schon  konnte,  beweisen  die  Gemälde  aus  der  Weimarer  Zeit,  die  er  zu  lustiger 
leichtsinniger  Stunde  das  Stück  um  einen  Gulden 
verkaufte  und  damit  den  Käufern  Schätze  schenkte. 
Mit  dem  energischen  Abschütteln  der  Professur  ging 
Lenbach  wieder  zu  seiner  ganz  freien  Lebensführung 
zurück.  Eine  Kopie  nach  dem  Rubensschen  Ge- 
mälde, Helene  Fourment,  mit  ihrem  Kinde  auf  dem 
Schosse,  brachte  ihm  indirekt  die  Beziehung  zu 
dem  Grafen  Schack.  Und  Lenbach  war  es,  der  den 
Grafen  Schack  durch  die  Energie  seiner  begeisterten 
Überzeugung  zu  dem  Kopieren  alter  Meisterbilder  für 
seine  Galerie  bestimmte.  Um  ein  jährliches  Gehalt 
von  tausend  Gulden  und  den  Ersatz  der  Reisespesen 
übernahm  Lenbach  diese  Aufgabe,  der  ersehnten  Reise- 
und  Malgelegenheit  froh. 

Lenbach  behauptete  immer,  er  habe  seinen  Auf- 
enthalt im  Prado,  so  weit  es  nur  menschenmöglich 
war,  ausgenützt.  Vom  frühen  Morgen  bis  zum  sinkenden 
Abend  —  als  Tagesmahlzeit  eine  Flasche  Wein  und 
ein  Stück  Brot  dabei  —  habe  er  gemalt  und  gemalt. 
Er  verliess  Spanien  unter  dem  Eindruck  der  klaffenden 
Gegensätze:  Kunstschönheit,  Naturschönheit,  Menschenschönheit,  aber  keine  Heimstätten  für 
Menschen,  kein  Mitleid  für  Tiere  und  Menschen,  Roheiten  überall. 

Im  Jahre  1867  kehrte  Lenbach  nach  München  zurück  mit  einem  neuen  Reichtum  von 
künstlerischen  und  menschlichen  Eindrücken  und  Anschauungen.  Bei  seinem  umfassenden  Interesse 
an  allen  Erscheinungen,  bei  seinem  Schauen  war  der  Kreis  seiner  Malobjekte  weit  gezogen, 
und  nur  als  Frucht  weiser  Beschränkung  und  zugleich  menschenzugewandten  Erkennens  gab  er 
dem  „Menschenmalen"  das  Vorrecht.  Seine  Jugendwerke  zeigen,  mit  welcher  Sehkraft  und 
Freude  er  Tiere  und  Landschaften  wiedergab.  Lebenslänglich  hatte  er  den  Wunsch,  über  die 
Grenze  des  Porträtmalens  hinauszugehen,  wie  in  dem  Bild:  „Allegorische  Szene".  Aber 
ein  Auftrag  nach  dem  anderen  hielt  ihn  fest.  Seine  erste  Porträt-Ausstellung  in  München 
erregte  allgemeines  Aufsehen  und  —  Kopfschütteln.  Das  war  anders,  als  das  Bisherige 
von     heute,     ganz     anders.      Das     war     fremdartig,     stand     selbständig     da,     warb     nicht     mit 


/''.  V.  lA'iibdcli.     Arnold  Böcklin  (Jugendbildnis) 


186 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


äusseren  Effekten,  erinnerte  wohl  an  die  Malart  der  Alten,  hob  sich  aber  durch  die  Ähnlichkeit 
mit  ihnen  keineswegs  auf,  ein  grosses  ureigenartiges  Etwas  machte  sich  kraft  seiner  Selbstherrlich- 
keit geltend!  Das  vielköpfige  „Man"  weiss  sich  mit  Selbstherrlichem  zuerst  nie  zurecht  zu  finden, 
das  vielköpfige,  schwankende,  autoritätsbedürftige  —  oder  leithammelbedürftige  „Man"  setzte 
hinter  den  Namen  Franz  von  Lenbach  ein  staunendes,  erwartungsvolles,  neugieriges  Fragezeichen, 
viel  bereiter  zu  zweifeln  als  zu  glauben!  Es  liegt  in  der  Natur  des  deutschen  „Man",  jedem 
unbekannten  Anderen,  Grossen  zuerst  misstrauisch  zu  begegnen,  ja:  es  zu  bekämpfen.    Die  Grössen 

aller  Zeiten  hatten  der  deutschen  Allgemein- 
heit, diesem  „Man",  keinerlei  Beistand  in 
den  Kämpfen  ihrer  Entwicklung  zu  danken. 
Es  hat  ihnen  gegenüber  keinen  Grund  zum 
Stolzsein  auf  sein  Urteil,  nicht  einmal  zu 
einem  guten  Gewissen.  Siehe  Dürer,  Goethe, 
Bismarck,  Schopenhauer!  Ist  aber  einmal 
sein  bösartiger  Widerstand  durch  beharrlich 
eindringende  Kraftproben  überwunden,  so 
wird  es  in  blitzartigen,  unvermittelten  Über- 
gängen stolz  auf  das,  woran  es  kein  Ver- 
dienst hat.  Der  Deutsche  ist  der  Zweifler 
an  sich!  Dem  Neuen,  ihm  Fremden  in  der 
Kunst  tritt  er  von  vornherein  schon  ver- 
neinend gegenüber,  wenn  er  nicht  durch 
Hörensagen,  durch  das  Ohr,  voreinge- 
nommen wurde.  Dem  geprägten  fremden 
Urteil  traut  er  mehr  wie  seinen  eigenen 
Augen.  Eine  verhängnisvolle  Urteilslosig- 
keit in  der  Kunst  liegt  sehr  tief  bei  ihm, 
hängt  mit  der  methodischen  Unterdrückung 
aller  Ursprünglichkeit  durch  die  Schule  zusammen.  Sie  ist  die  Hauptmitschuldige,  dass  unter  den 
50  Millionen  gutunterrichteter  Deutscher  Millionen  von  Menschen  den  wahren,  freudebringenden 
Weg  zur  Kunst  nicht  finden.  Sie  stellt  gedächtnismässiges  Wissen  an  die  Stelle  von  lebendigem 
Schauen.  So  beurteilen  ihre  verstandesgeschulten  Schüler  mit  dem  Intellekt,  was  gesehen,  empfunden 
sein  will,  so  besteht  der  Niederstand  des  mutigen  Erkennens  und  Ernennens  in  Deutschland.  Da 
gilt,  was  Lenbach  oft  von  dem  Einzelnen  sagte:  „Der  ist  ein  gescheiter  Kopf,  aber  Augen  hat  er 
keine."  Und  Augen  hatte  das  vielköpfige  ,,Man"  keine  für  ihn,  als  die  ersten  Lenbachbilder 
erschienen  und  zum  Erkennen   und  Ernennen  die  frohe  Gelegenheit  gaben. 

So  kommt  von  dem  vielköpfigen  „Man"  dem  Werdenden   keine  Hilfe,  sie  kommt  ihm  immer 
nur  von  der  Minorität.    Aus  dieser  Minorität,  die  seine  Schutztruppe  ist,  traten  auch  Lenbach  seine 


1' .     C.    l.riii, 


Adolf  Wilbrandt 


Vran/.  von  Lciibacli  piiix. 


Pbot.  K  HaiitsUviiKl,  MUnclivn 


Karl  von  Piloty 


Franz  von  Leiibach  piiix. 


Ph.it.   ^.  M:iiil<l.ioii4!l.   MuM.h,  1. 


Allegorische  Szene 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


187 


Brückenbauer  entgegen.  Einer  der  ersten  war  Theodor  Heyse,  der  kunstsinnige  Philologe,  der,  durch  die 
Kopie  von  Rubens'  Frau  von  Lenbachs  Kunst  überzeugt,  Schack  auf  sie  aufmerksam  machte.  Jetzt  war 
es  Moritz  von  Schwind,  der  Lenbach  nach  Wien  empfahl,  Schwind,  dessen  merkwürdigen  Kopf  Lenbach 
damals  malte,  der  nicht  so  sanft  war,  wie  seine  Gemälde  sind.     Er  hatte  einen  zornigen  Mut  der 


F.  V.  Lenbach.    Alois  Hauser 


eigenen  Meinung,  der  Lenbach  anzog.  Schwinds  Antwort  auf  die  Bemerkung,  Beethovens  neunte  Sym- 
phonie sei  doch  zu  lang:  „Nein,  mein  Lieber,  Sie  irren  sich,  Sie  sind  zu  kurz",  die  war  vom  Geist, 
der  ihm  gefiel  und  den  er  in  übersprudelnder  Fülle  besass.  Schwind  öffnete  Lenbach  eine  Salontüre, 
und  bald  standen  sie  ihm  alle  offen  und  in  allen  war  er  gesucht,  gerufen,  gefeiert.  Es  war  damals 
die  Zeit  Makarts,  mit  dem  sich  Lenbach  eng  befreundete,  eine  Zeitlang  malte  er  als  dessen 
Gast  im  Vorderraum  seines  Ateliers.  Lenbach  stand  alsbald  in  dem  Mittelpunkt  der  Wiener 
Geselligkeit.  In  den  merkwürdigen  Salons  der  Gräfin  Marie  Dönhoff,  die  in  Wien  die  „Musik- 
gräfin" hiess,  der  jetzigen  Fürstin  Bülow,  bei  Frau  Josephine  von  Wertheimstein,  bei  der 
Baronin  Sophie  Todesco,  überall  fand  Lenbach  Beifall,  Bewunderung,  Verständnis.     Er  lernte  alle 

XVI  28 


t88 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


F.  c.  Lcnl/ac/i.    Albert  Riegner 


grossen  Musiker,  Dichter,  Politiker  des  da- 
maligen Wien  kennen,  von  dem  die  Er- 
innerungen Adolf  Wilbrandts  ein  so  leben- 
diges, anziehendes  Bild  geben.  Er  erzählt 
auch,  wie  Lenbach  in  Wien  die  Geselligkeit 
über  den  Kopf  wuchs  und  wie  er  sich  durch 
Ausbleiben  und  Nichtworthalten  half. 

Denn:  er  malte,  er  malte  die  Grossen, 
an  erster  Stelle  den  Kaiser  Franz  Joseph, 
er  malte  die  Schönen,  die  Guten,  seine 
Freunde.  Der  Versuch  seiner  Anhänger, 
Lenbach  in  Wien  als  Direktor  der  k.  k.  Ge- 
mäldegalerien festzuhalten,  gelang  nicht.  Als 
er  in  der  grossen  Ausstellung  im  Jahre  1873 
in  Wien  ausstellte,  hatte  er  schon  seine  Macht 
ermalt,  war  er  schon  in  den  „Einzigenstand" 
von  Genies  Gnaden  erhoben. 

In  diese  Zeit  fällt  seine  Reise  mit  Makart 
nach  Ägypten,  von  der  die  Gruppenbildchen 
stammen,  die  Lenbach  in  seiner  jugendlichen  Schlankheit  in  Gesellschaft  Makarts  und  seiner 
Freunde  zeigen.  Makarts  Ruhm  war  damals  ein  Weltruhm  und  bereitete  den  Reisenden  einen 
festlichen  Empfang  vonseiten  des  Khedive  Ismael  Pascha  und  eine  gastliche  Aufnahme  in  einem 
verwilderten  Palast,  der  so  gross  war,  dass  sie,  ehe  sie  zu  malen  begannen,  eine  ganze 
Reihe  von  Türen  vernagelten,  um  sich  nicht  immer  wieder  zu  verirren.  Lenbach  reizten  die 
bronzefarbenen  Typen  des  Landes,  von  denen  sich  einige  in  der  Lenbachausstellung  finden. 
Das  Land  Ägypten  fesselte  ihn  nicht  auf  die  Dauer,  es  zog  ihn  nach  Wien,  nach  München, 
nach  Italien  zurück.  Seine  ermalte  Unabhängigkeit  erlaubte  ihm,  sein  Quartier  in  Rom  auf- 
zuschlagen ;  es  war  ein  anderes  Quartier,  als  das  aus  den  sechziger  Jahren  in  der  Via  Sistina, 
im  Palazzo  Borghese  in  Rom,  in  dem  er  sieben  königlich  eingerichtete  Riesensäle  bewohnte,  in 
dem  er  königliche  Feste  gab,  in  dem  er,  ein  gefeierter  Mann,  feierte  und  arbeitete.  Das 
grosse  kosmopolitische  Bild  Roms  nahm  er  in  sich  auf.  Er  malte  Weltleute  und  Volksleute, 
alles,  was  ihm  gefiel,  —  auch  den  Papst.  Der  Auftrag  eines  Kirchenbaukomitees  führte  ihn 
zu  der  ersten  Audienz,  bei  der  der  Papst  angelegentlich  nach  Bismarck  frug  und  für  ihn  und 
den  auserwählten  Berichterstatter  ein  solches  Interesse  gewann,  dass  er  sich  Bismarcks  Porträt 
bei  Lenbach  bestellte.  Diese  Bestellung,  an  der  auch  Bismarck  sein  witziges  Vergnügen 
hatte,  wurde  ausgeführt,  aber  die  politische  Türpolizei  liess  den  Vater  des  Kulturkampfes  nicht 
in  den  Vatikan.  So  hängt  jetzt  der  für  den  Papst  gemalte  Bismarck  in  der  Galerie  der  Stadt 
Breslau. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


189 


/'.  r.  Lenbath.     Gruppenbildnis 
(Im  Hintergrunde  Lenbach) 


Im  Jahre   1886    verliess  Lenbach  Rom,    die  Stadt,    in    der 

er  ein  gewaltiges  Stück  Leben  in  sich  aufgenommen    hatte,    in 

der  innere  Schicksale    an    seine  Ruhe   griffen,    in    der   er  Welt, 

Himmel    und  Hölle   der    Liebe    durchschritt.     Was   er  als    mit- 

massgcbend  für  seinen  Wegzug   empfand,    ist  merkwürdig  und 

charakteristisch.     Wilbrandt,  der  ihn   damals   besuchte,  erzählt: 

„er   führte    mich   auf    die  Terrasse,    von  der  man  zu  den  Prati 

di  Castello  neben  der  Engelsburg  hinüberblickte,  auf  denen  ein 

schonungslos  modern  hässlicher  neuer  Stadtteil  in  den  römischen 

Himmel  wuchs.    , Schau',  sagte  er,  ,jetzt  is's  aus.    Das  da  kann 

ich  nimmer  seh'n !'" 

So   herrschkräftig,   ja,    so  tyrannisch  war  das  ästhetische 

Gefühl  in  ihm,  so  herrschkräftig  und  tyrannisch  blieb  es  durch 

sein   ganzes  Leben.     Wenn    er   in    seinem    geliebten  München, 

das  so  gemischt  und  gegensätzlich  in  seinen  Strassenbildern  ist,  schöne,  seinem  Auge  wohltuende 

Wege  gemacht  hatte  und  in  die  Nähe  reizloser  Kasernenbauten  von  vorgestern  und  gestern  kam, 

dann  nahm  er   für   die  kürzeste  Strecke  eine  Droschke,  —  nur  das  nicht  sehen.     Wie  ein   echter 

Musikant  durch  eine  Tondissonanz  leidet,  so  litt  er  durch  eine  Bilddissonanz,  er  erschrak,  er  entfloh.  — 
Bald  nach  seiner  Rückkehr  aus  Rom  kaufte  er  sich  auch  rasch  entschlossenen  Geschmackes 

den  Bauplatz  in  der  klassischen  Lage 
Münchens,  an  der  Pforte  seines  Stückchens 
Griechenland,  da  richtete  er  das  Haus  auf, 
das  sein  Freund  Gabriel  Seidl  ganz  nach 
dem  Künstlertraume  Lenbachs  baute,  eine 
Heimstätte  voll  Gemütlichkeit  und  Schön- 
heit, Schon  der  Weg  durch  den  breiten 
Vorgarten  altitalienischer  Art  scheint  an 
ein  anderes  Ufer  zu  führen :  Weltferne, 
Harmonie.  In  ihrer  breiten  Raumgebung, 
in  ihrer  vollendeten  Ausstattung  wirkt  diese 
Heimstätte  still  und  vornehm ;  keine  Stil- 
orthodoxie, die  das  Persönliche  einengt, 
drängt  sich  auf,  Lenbach  nahm  alles,  was 
er  schön  an  sich  fand,  auf,  und  weil  er 
wusste,  was  schön  ist,  stimmt  es.  Neben 
den  edelsten  Originalen  findet  eine  bunte 
Muschelkette,  wie  sie  die  griechischen 
F.  r.  Lrnhach.   Zehn  Künstierporträts  Bcttelkinder    auf    der    Strassc     verkaufen. 


190 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


ebenso  ihren  Platz,  wie  der  pompöse  Messingkäfig  mit  dem  antiken,  historischen,  noch  lebendigen 
Papagei,  den  einst  König  Ludwig  der  Lola  Montez  schenkte.  Jeder  Raum  gibt  den  Eindruck 
harmonischer  Schönheit,  an  der  Ausstattung  jeden  Raumes  arbeitete  Lenbach  wie  an  einem  Kunst- 
werke. Sein  jüngstes  Einrichtungskunstwerk  war  der  grosse  Saal  im  ersten  Stock  seines  Wohn- 
hauses, die  Perle  seiner  Festräume.     In  diesen  Festräumen  empfing  er  eines  Tages  mit  kindlicher 

Freude,  an  der  er  möglichst  Vielen  Teil 
gab,  Bismarck  als  seinen  Gast.  Als  er 
mir  die  zu  seiner  Aufnahme  bereiteten  Räume 
zeigte  und  ich  nach  dem  fehlenden  Bilder- 
schmuck  des  Schlafzimmers  frug,  meinte 
er:  „Der  alte  Herr  braucht  keine  Bilder! 
Ja,  wenn  ich  ihm  die  Wände  mit  der  , Nord- 
deutschen Allgemeinen'  verzierte  .  .  .  ." 

Auf  der  breiten  Veranda  des  Neben- 
hauses zeigte  sich  damals  Bismarck  der 
ihn  feiernden  Menge.  Dieses  Nebenhaus  ist 
ein  Haupthaus,  denn  unter  seinem  Dache 
befindet  sich  Lenbachs  Atelier,  eine  Werk- 
stätte, aber  eine  königliche  mit  glänzenden 
Vorräumen,  deren  Wände  echte  Tizians, 
die  Porträts  von  Franz  I.  und  Philipp  II., 
schmücken;  auf  den  Tischen  liegen  farbige 
Brokate,  blinkende  Edelsteine,  Schwerter, 
Tiaras;  keine  Kuriositäten,  die  nur  Kuriosi- 
täten wären,  jede  Kleinigkeit,  jeder  Sessel, 
jede  Truhe  schön  in  sich,  ein  wohlgestimmtes 
Instrument  in  diesem  Konzerte  der  Schönheit. 


F.  V.  Lenbach.     Fische 


Im  eigentlichen  Atelier,  in  dem  Lenbach  malte,  von  morgens  bis  abends  malte,  herrscht  ein  grosser 
Ernst.  Am  Fenster  steht  ein  Torso,  ein  echtes  Stück  Griechenland,  hängt  ein  Kasten  voll  exotischer, 
farbenblinkender  Schmetterlinge,  in  einer  Schale  liegen  bunte  Perlen,  „farbiger  Abglanz",  mit 
dem  sein  schönheitsfrohes  Auge  gerne  spielte.  In  einer  Ecke  steht  ein  behaglicher  Divan, 
daneben  ein  Tisch  mit  Büchern  und  Bildern.  Da  ist  der  Beichtwinkel,  in  welchem  die  seelischen 
Aufnahmen  stattfanden.  Von  da  aus  übersieht  man  den  ganzen  Raum.  Ein  weiches  Seitenlicht, 
das  zu  geschickt  angebrachten  Fenstern  hereinfällt,  umspielt  das  schöne  Ganze:  die  malerischen 
alten  Gobelins,  die  malerischen  Lenbach  -  Porträts,  die  heidnische  und  die  christliche  Kunst.  Ein 
grosses  Kruzifix  mit  dem  gekreuzigten  Heiland  überragt  allen  Wandschmuck,  überragt  die  breite 
Estrade,  auf  der  die  weltlichen  Bilder  von  Lenbachs  Hand,  seine  Lebens- 
werke, in  bunter  Reihe  stehen. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


191 


Und  die  Gestalten  dieser  bunten  Reihe,  wie  sie  in  dem  Wechsel  der  zwei  Jahrzehnte,  in  denen 
Lenbach  mit  den  Unterbrechungen  seiner  Reisen  ganz  in  München  lebte,  durch  dieses  Atelier  gingen, 
im  Bilde  auf  dieser  Estrade  standen,  sie  sind  eigentlich  die  berufenen  und  auserwählten  Er- 
zähler der  weiteren  reichen  Lebensgeschichte  Lenbachs.  Sie  nahm  er  als  Malbilder  wie  als 
Lebensbilder  in  sich  auf,  ob  sie  seine  Sprache  sprachen 
oder  nicht,  ihrer  Wesen  Sprache,  er  verstand  sie.  Er 
hatte  die  Worte  der  fremden  Sprachen  nicht  nötig. 
Während  er  eines  Tages  malte,  kam,  wie  Wilbrandt 
erzählt,  ein  Telegramm:  „Bitte,  verdeutsch'  mir,  was 
drin  steht".  Es  war  in  französischer  Sprache  und 
drückte  die  Freude  irgend  eines  spanischen  Diplo- 
maten aus,  wieder  ein  paar  Stunden  mit  seinem  lieben 
Lenbach  zu  verbringen.  „In  welcher  Sprache  verlebt 
ihr  die",  trug  ihn  der  Übersetzer.  Und  „Ja,  weisst", 
erwiderte  Lenbach  voll  Humor,  „er  kann  kein  Deutsch 
und  ich  kein  Französisch.  Wir  kennen  uns  halt  von 
Madrid".  Er  kannte  sie  alle,  die  er  „ins  Auge  fasste", 
ob  sie  sprachen  oder  nicht.  Durch  den  Schleier  des 
Schweigens  wie  des  Redens  sah  er  in  ihr  Herz  hinein, 
während  er  ihre  Züge  festhielt.  Ihm  verwandelten 
sich  alle  die  ausserordentlichen  Begegnungen  und  Ein- 
drücke jeden  Tages  zu  Lebensflammen,  durch  die  er 
die  Menschen  immer  wieder  anzog,  durchwärmte,  er- 
leuchtete. Sehr  selten  sprach  er  von  sich,  aber  sie 
sprachen  zu  ihm,  vertrauten  ihm,  wurden  wach  in 
seiner  Nähe,  in  dem  Klima  seiner  Güte. 

Was  er  an  Bildern  von  seinen  vielfachen  Reisen 
nach  Italien,  Paris,  Wien,  London,  Holland,  Berlin, 
Varzin,  Friedrichsruh  mitbrachte,  Skizzen,  Halbvoll- 
endetes,  Vollendetes,    alles  Geschaffene    stand    einmal 

auf  der  Estrade  seines  Ateliers,  dieser  Weltbühne!  Nur  die  ungefähre  Nennung  der  Namen  all 
seiner  Gemälde  zeigt  das  weite  Panorama,  in  dem  er  malend-erobernd,  geistig  spazieren  ging. 
Das  grosse  wandernde,  wechselnde  Bild,  das  bei  dieser  Vorstellung  vor  dem  Auge  aufsteigt,  lockt, 
einen  Lenbach-Festzug  zu  bilden,  und  ihn  zu  seiner  feierlichen  Ehrung   vorüberziehen    zu    lassen. 

Voran  schreitet  als  Führende  eine  Kindergruppe,  aus  all  den  lieblichen  Unmündigen,  Un- 
schuldigen, die  er  gemalt  hat,  die  er  geliebt  hat  als  das  Paradiesische,  das  Glückliche,  das  Glücks- 
pfand der  Menschheit,  die  ihm  alle  ans  Herz  gingen,  woher  sie  auch  kamen.  „Kinder  sind 
vom  Himmel  gefallen",    pflegte    er   zu    sagen.     Ihnen  folgen  die   jungen  Mütter,    die  er  so  gerne 


F.  V.  Leiibaili.     Huhn 


192 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


als  zärtliche  weltliche  Madonnen  auffasste,  ihr  Kind  an  sich  schliessend,  ihre  Weit.  Mit 
ihnen  gehen  die  jungen  Mädchen,  die  Frühlingshaften,  die  er  wie  Blumen  betrachtete,  jeden  Farben- 
reiz, jeden  Schimmer  hervorhebend.  In  ihrem  Gefolge  schreiten  zuerst  die  Maler:  Hofner,  Piloty, 
Böcklin,  Schwind,  Hagn,  Kugler,  Makart,  Passini,  Herterich,  Hengeler,  Oberländer,  Seitz, 
Stuck;  dann  die  Bildhauer:  Gedon,  Begas,  Kopf,  Rümann;  die  Architekten:  Semper,  Gabriel  Seidl, 
Emanuel  Seidl;    die  Musiker:  Wagner,    Liszt,    Bülow,   Joachim,   Hornstein,    Levy,   Lachner,  Johann 


F.  A.  von  Kdiilhach.     (Einladungskarte  zum  Künstlerfest 
(Auf  der  Quadriga  Lenbach) 


Strauss;  die  Dichter:  Paul  Heyse,  Adolph  Wilbrandt,  Hermann  Lingg,  Björnson,  Busch,  Schack; 
mit  ihnen  gehen  die  Künstler  und  Künstlerinnen  der  Bühne,  die  ernsten  und  die  lustigen:  Coquelin, 
Possart,   Dreher,  Plank,  die  Düse,  die  Sorma,  die  Barbi,  die  Sanderson. 

Diesen  Gruppen,  die  auch  aus  den  Herrscherkreisen  der  Menschheit  kommen,  folgt  die 
Gruppe  der  Potentaten :  die  drei  deutschen  Kaiser,  die  Könige  Ludwig  I.,  Ludwig  IL,  der  Prinz- 
regent, Prinz  Luitpold,  Prinz  Rupprecht,  Herzog  Karl  in  Bayern,  Prinz  Leopold,  der  österreichische 
Kaiser,  der  König  von  Sachsen,  Ferdinand  von  Bulgarien,  die  Kaiserin  Friedrich,  die  Herzogin 
Klementine  von  Koburg,  die  Königin  von  Italien,  die  Königin  von  Neapel,  die  Königin  Isabella 
von  Spanien,  der  Papst,  und  mit  ihnen  gehen  die  Helfer  des  Reichs,  in  ihrem  Mittelpunkt 
hervorragend  Bismarck,  mit  ihm  die  Strategen,  die  Offiziere,  Moltke  allen  voran,  von  der  Tann, 
die  Politiker,  Hohcnlohe,   Bülow,    Riedel,  Döllinger,   die   Diplomaten    Gladstone,   Minghetti.     Ihnen 


DIR  KUNST  UNSERER  ZEIT 


193 


schüessen  sich  die  Helfer  aller  Reiche,  die  inter- 
nationalen Herrscher  an,  die  Wissenschaftler,  wie 
Pettenkofer,  Helmholtz,  Virchow,  Siemens,  Bayer, 
Siebold,  Mommsen;  auch  Nanssen  dürfte  zu  ihnen 
zählen.  Nach  ihnen  kommen  die  mannigfaltigen 
Typen  aus  der  Gesellschaft,  die  Finanzleute,  die  In- 
dustriellen, die  Aristokraten,  wie  Graf  Moy,  Prinz 
Lichtenstein,  Fürst  Tucher,  Borghese.  Mit  ihnen  die 
Schar  der  Aristokratinnen,  die  er  alle  adelte,  indem 
er  sie  malte.  Die  mit  und  ohne  Ahnen  bilden  die 
grosse,  interessante  Gruppe  derer  ,,von"  Lenbachs, 
kraft  seiner  Farbe,  seiner  Kunst  geadelt!  Sie  steigen 
alle  in  eine  Rangklasse  auf,  die  sich  durch  ihre 
künstlerische  Lebensfähigkeit  im  Wandel  der  Zeiten 
behaupten  wird,  —  das  Bild  der  alten  Dame  in 
Trauer  wird    so   als  klassisch  fortleben,    wie  das  der 


F.  V.  Lenhach.    Frau  Therese  Seidl 


F.  r.  Lenhitih.     Lorenz  Gctioii 

alten  Frau  Seidl,  wie  das  der  Herzogin  Max 
in  Bayern,  wie  das  der  Herodias,  wie  das 
von  Lolo  Lenbach-Hornstein. 

In  diesem  Lenbach-Festzuge,  der  die 
lebendigste  und  farbigste  Illustration  zu 
Lenbachs  Lebensarbeit  und  Lebensinhalt  gibt, 
darf  kein  Bild  fehlen,  das  der  Tänzerinnen 
und  der  Schlangenbändigerin  so  wenig  wie 
das  der  Schrobenhauser  Bauern,  auch  das 
der  Aresinger  Sonnenbuben  nicht,  auch  die 
Tiere,  die  er  so  sehr  liebte  und  so  gern 
verwöhnte,  der  Esel  aus  Schrobenhausen 
und  sein  Hund,  der  treue  Spitz,  nicht.  Und 
an  wessen  Auge  dieser  Lenbach- Festzug 
vorüberzöge,  der  sähe  nicht  nur  Lenbachs 
Menschenpanorama,  der  sähe  einen  Aus- 
schnitt aus  dem  Bilde  der  Menschheit  im 
Spiegel  seiner  grossen  unsterblichen  Kunst! 

Als  im  Herbst  1887  Theodor  Graf  aus 
Wien  die  von  Beduinen  in  Kairo  erstandenen, 
mit  Männer-,  Frauen-  und  Kinderköpfen 
kaustisch  bemalten  Holztafeln  ausstellte,  war 


194 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


\ 


die  Überraschung  der  Kulturwelt  allgemein  und  gross.  Die  Fachwissenschaft  bezeichnete  als  die 
äusserste  Zeitgrenze,  aus  der  diese  Malereien  kommen  könnten,  das  Jahr  3  9  5!  Was  auch  über 
die  ägyptische  Welt  von  damals  mit  vielem  Wissen  und  schwärmerischer  Phantasie  in  so  und  so 
viel  Romanen  zusammengetragen  worden  war,  alles  verblasste  angesichts  dieser  Holztafelmalerei 
zu  lebloser  Theatralik.     Aus  diesen  Gesichtern,  die  nach   fast  16  Jahrhunderten   wie   auferstanden 

erschienen,  sprach  ein  individuelles,  ver- 
wandtes Leben,  geistiges  Wachsein,  ge- 
mütliche Wärme;  diese  Heiden  sprachen  zu 
den  Kindern  der  Telephonzeit,  verbanden 
sich  mit  ihnen.  Sie  sagten  ihnen  mit  grossen 
sprechenden  Augen :  wenn  wir  uns  auch 
nicht  so  abgelernt  und  abgeeilt  haben  wie 
ihr,  die  Hauptsache  wollten  wir  auch  lernen, 
die  Kunst  zu  leben.  Wir  haben  geliebt 
wie  ihr  und  darum  an  der  Sehnsucht  und 
an  der  Vergänglichkeit  gelitten  wie  ihr, 
denn  ihr  seht,  auch  wir  suchten  die  Züge 
derer  festzuhalten,  die  wir  unter  dieser 
Erdensonne  liebten.  Die  Holztafeln,  die 
der  unerschöpfliche  Romandichter  Zufall  in 
zugewehten  Höhlen  im  Wüstensand  ver- 
steckt hatte,  sie  geben  uns  Bände  unver- 
fälschter Geschichte. 

Wenn  durch  elementare  Ereignisse  alle 
kulturgeschichtlichen  Berichte  unserer  Zeit 
verschwänden  und  nur  eine  Gruppe  Len- 
bachscher  Porträts  übrig  bliebe,  sie  würde 
gleich  den  ägyptischen  Holztafeln  ihre  Geschichte  erzählen.  Sie  würde  aus  der  Gesellschaft  unserer 
Zeit  die  „documents  humains"  in  schöner,  lebendiger,  interessanter  Sprache  weitertragen,  schöner, 
lebendiger,  interessanter,  als  alle  theatralisch  verbrämten,  historischen  Romane.  Sie  würde  der  Nach- 
welt eindringlich  zeigen,  in  wie  vielerlei  Spielarten  das  Geistesleben  der  Menschen  zum  Ausdruck  kam, 
wie  damals  der  Krieg  der  Schlachten,  der  Staatskunst,  der  Politik,  des  Verstandes,  des  Gefühls,  des 
Lebens  an  sich,  des  Kampfes  ums  Dasein  und  ums  Wersein  Wesen,  Charakter  und  Züge  bildete.  Von 
dem  äusseren  Beruf  der  Gemalten  durch  keinen  Kommentar  unterrichtet,  würden  sie  unmittelbar  durch 
die  Kunst  Lenbachs  lesen,  wer  geschaffen,  geraubt,  geherrscht,  gedacht,  geforscht,  geheuchelt,  geholfen, 
genossen,  gesungen,  gelacht,  gelitten,  gefühlt  hatte,  welche  guten  oder  bösen  Geister  in  ihm  wirkten. 
Und  die  Gestalt  des  Künstlers  selbst,  was  würde  sie  ihnen  sagen?  Der  souveräne  Mann 
mit    dem    zielenden  Blick,    wie   er   auf  seinen  Selbstporträts   aus  seinen  gesunden,  frohen  Tagen 


F.  V.  Ijenhach.    Adolf  Oberländer 


Franz  von  l.ciibach  pinx. 


Hhot.  K.  HanlütainKl,  München 


Josefine   Lenbach 


Kranz  von  Lcnbach  pinx. 


Phot.  F.  HanlslacnKl,  München 


DerTitusbogen   in   Ro 


m 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


195 


aussieht,  würden  sie  ihn  als  den  Zufriedensten,  den  Harmonischen  erkennen,  der  sich  am  eigenen 
Feuer   wärmt,    nach    innen  lebt?    Sie  würden  die  glänzende,  ordensreiche  Reihe  seiner  sieghaften 


F.  0.  Lenbach.    König  Ludwig  I.  von  Bayern 

Erfolge  in  zahlreichen  Ausstellungen,  im  Verkehr  nie  voraussetzen.  So  oft  ihn  auch  Missverständnis 
und  Missgunst  falsch  beurteilte:  es  ist  so,  er  lebte  nach  innen.  Trat  er  nach  aussen,  so  tat  er 
es  aufrecht  und  aufrichtig,  meist  für   die    gute  Sache    der  Allgemeinheit.     Tat  er  es  seltene  Male 

XVI  29 


196 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


für  sich,  so  scheute  er  es  nicht,  sich  in  seiner  wahrhaftigen  Erkenntnis  auch  selbst  zu  vertreten, 
wie  auf  der  jüngsten  Pariser  Weltausstellung,  wo  er  sich  als  den  „rechten"  Vordermann  in  der 
deutschen  Vertretung  einschätzte  und  von  den  Kennern  recht  bekam.    Die  Unverständigen  sagen : 

er  hat  Ellenbogen,  die  Verstän- 
digen: er  hat  „die"  Kraft!  Und 
sein  nächster  Freund  sagt:  „Ellen- 
bogen, nein,  Adlerschwingen  hat 
er  gehabt!" 

Und  wenn  die  Nachgeborenen 
spätester  Zeiten  sein  letztes  Selbst- 
porträt sähen,  das  er  nach  seiner 
tragischen  Erkrankung,  die  den 
Arm  lähmte,  gemalt  hat,  sie 
würden  ahnen,  da  ist  Adlerstarkes 
verwundet,  ein  Martyrium  ist  über 
diesen  Mann  gegangen,  sie  würden 
fragen,  wissen  wollen,  was  ihn  so 
leiden  machte.    Die  Schauer  der 

Vergänglichkeit  hatten  seine 
Seelenfreudigkeit,  seinen  Seelen- 
frieden zerstört !  Aber  vor  seinem 
Krankheitsunglück  war  er  das 
Bild  souveräner  Zufriedenheit,  die 
die  wahre  Freiheit  ist! 

Sein  witziges,  gütiges  Kind 
Gabriele,  das  er,  der  Vogel- 
freund, so  gerne  den  kleinen 
Raubvogel  nannte,  das  ihm  in 
der  Schmerzenszeit  seiner  Krank- 
heit engelhafte  Liebe  zeigte, 
meinte,  man  hätte  denken  können, 
er  schaue  bös,  wenn  man  nur  seine  Augen  sah.  Wenn  man  aber  dann  seinen  Mund  betrachtete, 
dann  hätte  man  gesehen,  wie  gut  er  lache.  Ja,  er  lachte  gut,  wie  er  gut  handelte,  auch  aus 
seiner  Kunst  spricht  diese  unbegrenzte  wohlwollende  Güte,  die  gern  alles  mit  dem  Festglanz  der 
Schönheit,  des  Frohsinns  vergoldete,  die  predigte,  jeden  Tag  zum  Festtag  zu  machen.  Niemand 
wisse,  wie  viel  Festtage  er  geben  und  geniessen  könne.  Er  hat  Festtage  gegeben  und  genossen, 
und  es  war  wohl  die  verwandtschaftliche  Denkungsart,  durch  die  er  das  Wort  von  Rubens  fest- 
hielt und  gerne  anführte:    „Es  kommt  nicht  darauf  an,  wie  lang  ein  Stück  gespielt   hat,   sondern 


,„'iili<i<li.     Uübcrt  von  I  loriistciii 


DIE  KUNST  UNSERER   ZEIT 


197 


wie  gut  es  gewesen  ist."  Er,  der,  wie  Sir  Dudley  Carleton  den  Rubens  nannte,  „ein  Fürst 
der  Maler  und  der  Gentlemen  war',  er  wusste,  „sein  Stück"  war  gut,  voll  Lebensfülle, 
voll  Arbeitsfreude.  Er  sagte  einmal:  „ein  Künstler  darf  gar  nicht  merken,  wie  er  alt  wird,  und 
wenn  der  Tod  kommt,  muss  er  aufschauen  und  sagen:  ,Jesses,  schon?  Jetzt  hätt'  ich  grad  recht 
angefangen'".  Sein  Stück  war  viel 
zu  frühe  aus.  Es  war  ein  Golgatha- 
tag, als  er  den  gespenstischen 
Überfall  der  Krankheit  erfuhr.  Mit 
dem  heroischen  Mut,  der  sanft 
und  still  ist,  mit  den  tragischen 
Vorstellungen  leise  umgeht,  er- 
trug er  ihre  Schrecken  und  ihre 
Schmerzen,  in  denen  er  auch  an 
die  Allgemeinheit  dachte.  Oft  frug 
er  den  Arzt,  der  ihn  pflegte,  ob 
viele  dasselbe  hätten.  In  der  All- 
gemeinheit suchte  er  wohl  auch 
den  Trost,  den  der  trostbedürftige 

Mensch  dem  Gesetz  abringt, 
während  er  ihm  entfliehen  möchte. 
In  der  Stille  des  Krankenzimmers, 
von  der  hingehendsten  Liebe  um- 
geben, rettete  er  sich  in  andere 
Welten.  Mit  gespanntem  Interesse 
Hess  er  sich  mit  Vorliebe  Memoiren 
vorlesen  und  urteilte  treffend  und 
interessant,  wie  in  gesunden  Tagen. 
Mit  wehmütiger  Freude  hörte 
er  von  allen  Kundgebungen  der 
Teilnahme,  der  Hochschätzung, 
der  Bewunderung.  Von  all  den  Vielen,  die  zu  ihm  drängten,  wollte  er  nur  sehr  Wenige  und 
diese  selten  sehen.  Es  war,  als  ob  er  sich,  wie  ein  Verwundeter,  in  den  Heimatschutz  der  Liebe 
verbergen  wolle,  als  ob  er  sich  vor  den  Bildern  der  Welt,  der  er  in  gesunden  Tagen  hin- 
gebend angehörte,  als  ob  er  sich  vor  dem  grossen,  schmerzlichen  Heimweh  nach  seiner  Kraft  fürchte. 
Die  Hoffnung  auf  Genesung  erstarkte.  Eine  Reise  nach  dem  Süden  steigerte,  befestigte  sie, 
Malpläne  und  Baupläne  wurden  gepflegt.  Den  Sommer  der  Rekonvaleszenz  verbrachte  er, 
hoffnungsfroh,  mit  seiner  Familie  in  Starnberg.  Entzückt  von  der  Weite  des  Blickes,  von  der 
stillen  Schönheit  des  Hügels,   auf   dem    die  von  ihm   gemietete  Villa  stand,    kaufte  er  nahe  dabei 


F.  r.  Lenbach.    Baronin  von  Hornstein 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


einen  herrlichen  Baugrund,  auf  dem  jetzt  sein  fürstliches  Landhaus  steht.  Er  freute  sich  an  dem 
Ausdenken  seiner  Einrichtung,  an  dem  Skizzieren  des  Gartens,  der  einem  Rubens  gefallen  sollte, 
er  freute  sich  an  jedem  guten  Tag,  er  malte!  Nach  München  zurückgekehrt  —  es  war  im 
Herbste  1903  —  drohten  neue  Übel.  Was  in  seinem  wachen  Geist,  in  seinem  lebensfreudigen, 
liebevollen  Herzen  vorgegangen  sein  mag,  als  er  neue  Gefahren  auf  sich  loskommen,  als  er 
sich  vor  die  Frage  einer  Operation  gestellt  sah,  das  ist  nur  mit  dem  tiefsten  Mitleid  auszudenken. 
Er  klagte  nicht.  Leise  Schmerzensrufe,  wie  die  Unterschrift  eines  Briefes  an  Prinz  Rupprecht, 
Lenbach  a.  D.,  klangen  fast  lächelnd,  ein  wehes,  wundes  Lächeln.  Vor  Weh  und  Wunden  flüchtete 
er  sich  zu  den  Harmonien  seines  Lebens,  zur  Kunst,  zur  Liebe.  Das  Harmonium  liess  er  sich 
in  die  Nähe  seines  Krankenlagers  stellen,  und  noch  in  seinen  letzten  Lebenstagen  bat  er  seine 
Frau,  ihm  alte  getragene  italienische  Weisen  vorzusingen.  Noch  an  den  Eingang  seines  könig- 
lichen Saales  liess  er  sich  fahren,  all  die  Schönheit  suchend,  zärtlich  grüssend,  was  ihm  so  lieb, 
so  wohltuend  war,  was  ihm  den  farbigen  Vorhang  vor  dem  Abgrund  bedeutete  und  seine  Seelen- 
ruhe so  köstlich  geschützt  hatte. 


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Franz  von  Lenbach  tot!  —  —  — 

Es  war,  als  ob  Unmögliches  geschehen  wäre,  als  ob  eine  grosse,  leuchtende,  wärmende 
Flamme  erlösche,  als  ob  es  noch  kälter,  dunkler  würde  in  dieser  kalten,  dunklen  Welt. 

Die,  denen  der  Mensch  gehörte,  werden  ihn  trotz  aller  Auferstehungskraft  seiner  Kunst 
nie  entbehren  lernen.  Dazu  waren  die  Gegenwartsgaben  seiner  Persönlichkeit  zu  gross.  Der 
Dichter,  der  seiner  Frau  seine  Teilnahme  in  den  Worten  ausdrückte:  ,, Einst  die  reichste,  jetzt 
die  ärmste  Frau",  er  hat  recht.  Für  die,  die  ihn  liebten  und  von  ihm  geliebt  wurden,  ist  ein 
ganzes  südliches  Land,  ein  gelobtes  Land,  in  dem  immer  Sonne  und  Erntefreude  war,  unter- 
gegangen. 

Grosse  Tröstungen  hat  er  ihnen  hinterlassen  in  dem,  worin  er  den  Gegenwärtigen  und 
den  Kommenden  ledendig  bleibt,  in  dem,  was  kraft  seiner  Persönlichkeit  so  gross-mächtig  wurde 
und  wirkt:  in  seiner  Kunst. 

Franz  von  Len- 
bach ist  eingereiht  zu 


den  Grossen,  die  zu 
verstehen  er  als  eine 
,, Gnade"  bezeichnete, 
die  man  die  Alten  nennt 


und  die  doch  die  Jun- 
gen bleiben,  von  deren 
Werken  ein  unvergäng- 
liches Leben  ausstrahlt, 
die  nicht  sterben. 
Er  lebt! 


Villa  Lenbach  in  Starnberg 


Otto  Strutzel.     Benediktenwand 


ÜBER  DIE 

IX.  Internationale  Kunstausstellung  1905 

IN  MÜNCHEN 

VON 

FRANZ   LEHR 


Die  heurige  Kunstausstellung  im  Glaspalast  nennt  sich  eine  internationale;  ihre  Bedeutung 
jedoch  liegt  nicht  in  dem  Begriff  „international",  denn  die  ausländische  Kunst  tut  sich  nur 
wenig  hervor.  Das  Ausland  tritt  zwar  numerisch  in  derselben  Stärke  wie  früher  auf,  aber  es 
beschickt  unsere  Ausstellung  nicht  mehr  mit  so  guten  Werken  wie  früher.  Seit  der  glänzenden 
Vertretung  auf  den  Ausstellungen  von  1888  bis  1890  und  1895  ist  es  stetig  zurückgegangen. 
Auf  die  Hochflut  von  damals  ist  längst  die  Ebbe  gefolgt.  Dagegen  kann  man  seit  jener  Zeit  eine 
mehr  und  mehr  ansteigende  Bedeutung  und  Wertschätzung  unserer  heimischen  Kunst  wahrnehmen. 
Dies     verursacht    eine    viel    grössere    Nachfrage    nach    inländischen    Kunstwerken ;    das    Ausland 

XVI  30 


200 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Liu,  Putz.     Halbakt 


hat  daher  kein  so  grosses  Interesse  mehr, 

unsere    Ausstellungen    gut   zu    beschicken. 

Die  Zeit   der   grossen  Überraschungen    ist 

vorüber,  vorüber  auch  die  grossen  Evo- 
lutionen in  der   modernen  Kunst,   die  ihre 

Fluten  von  Westen  her  über  Europa  wälzten 

und     überall    anregend     und    befruchtend 

wirkten.     Sie  haben  sich  verlaufen  und  in 

ein  Netz   von    Kanälen   verteilt,    an    denen 

kluge  Köpfe   ihre  Mühlen    betreiben.     Wer 

sich    heute    in    der  Kunst    orientieren   will, 

welche  Richtung  und  welche  Werte  gerade 

in  der  Zeit  liegen,  der  schaut   nicht  mehr 

bloss  nach  Paris.    Paris  ist  nicht  mehr 

die  Zentrale  der  europäischen  Kunst. 

Wir  sind  innerlich    längst  über  den 

Impressionismus,  die    letzte  grosse 

Parole,  die  dort  ausgegeben  wurde, 

hinausgewachsen.  Die  Zeit  der  Ab- 
rechnung ist  gekommen.    Wir  sind  daran  zu  zählen,  abzuwägen  und  abzuschneiden.    Wir  müssen 

einmal  Bilanz   ziehen,    und  bei  dieser  grossen  Abrechnung  wird  es  heissen,  Impressionismus  oder 

Expressionismus?  Was  ist  gut  deutsch?  Das  Resultat 
ist  vorauszusehen  :  Wir  dürfen  nur  auf  unsere  Tradition 
zurückblicken  und  bedenken,  warum  Dürer,  Holbein. 
Matthias  Grünewald  vor  allem  und  die  Holländer, 
Rembrandt  voran,  wieder  so  auffallend  modern  ge- 
worden sind.  Erinnern  wir  uns  zugleich  daran,  wie  in 
unserer  engeren  Heimat,  hier  in  München,  Richtungen 
und  Meister  wiederum  Geltung  erlangen,  an  die  man 
vor  zwanzig  Jahren  gar  nicht  mehr  gedacht  hat. 
Unsere  Toten  Heinrich  Bürkel,  Karl  Spitzweg,  Moritz 
von  Schwind  sind  wieder  lebendig  geworden  und  be- 
ginnen erst  recht  wieder  zu  wirken.  Das  Ausstellungs- 
gebäude der  Sezession  am  Königsplatze  hat  noch  nie 
einen  solchen  Andrang  von  Menschen  erlebt  als  in 
jenen  Tagen,  da  dort  der  versammelte  Schatz  der  gold- 
werten  Schwindschen  Kunst  wiederum  offenbar  ward. 
Simon  Giackiivh    Dame  in  Weiss  Da  war  CS   köstlich  ZU   Sehen,   wie  sich  alles  an  die 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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Wände  drängte,  um  die  mit  Lieb  und  Fleiss  ausgeführten  Zeichnungen  und  Stiche  des  Meisters  zu 
sehen,  während  man  sonst  bei  den  obligaten  Frühjahrsaussteilungen  per  Distanz  vor  den  Bildern 
steht,  um  einen  allgemeinen  „farbigen  Eindruck"  zu 
erhaschen. 

Möchte  doch  dieser  eine  Erfolg  es  den  Aus- 
stellungsleitern nahegelegt  haben,  was  Richard  Wagner 
in  den  Meistersingern  so  trefflich  in  dem  Sprüchlein 
ausdrückt: 

Ehrt  eure  deutschen  Meister, 
Dann  bannt  ihr  gute  Geister! 

Seitdem  ist  auch  schon  manche  Kollektiv-  und 
Sonderausstellung,  wie  die  von  Lenbachs  und  Def- 
reggers  Werken  nachgefolgt.  Wir  haben  schon  ein- 
mal dringlich  die  Anregung  gegeben,  den  grossen 
Schatz  heimischer  Kunst  an  Stelle  der  flauen  inter- 
nationalen Produktion  vorzuführen:  eine  gross- 
angelegte Retrospektive  neben  einer  die 
moderne  Produktion  möglichst  glänzend 
vertretenden  Ausstellung.  Um  wie  vieles 
besser  wäre  der  Gesamteindruck  der  heurigen  Aus- 
stellung, wenn  dieses  Programm  durchgeführt  worden 
wäre. 

Der  geneigte  Leser  ist  eingeladen,  mit  uns 
einmal  einen  kurzen  kritischen  Gang  durch  das  Aus- 
stellungsfeld zu  unternehmen.  Begeben  wir  uns 
zuerst  vom  Vestibül  aus  zu  den  auf  der  linken 
Seite  gelegenen  Sälen,  die  die  internationale  Kunst 
beherbergen.  Gleich  im  ersten  Räume  bei  den 
Schweizern  macht  sich  ein  farbiges  buntes  Leben 
bemerkbar.  Gemälde  hängen  an  den  Wänden,  die 
wie  grosse  kolorierte  Bilderbögen  aussehen  —  Bilder- 
bogen —  die  Volkstrachten  darstellen,  ein  Kapitel  aus 
der  Schweizer  Geschichte  erzählen  und  Land  und  Leute  bei  ihrer  täglichen  Arbeit,  bei  ihren 
häuslichen  Freuden  und  Leiden,  ihren  Erholungen  und  Festen  schildern.  Alle  Seiten  in  diesem 
grossen  Bilderbuche  sind  aufgeschlagen  und  Land  und  Leute  der  Schweiz  in  grellen  auf- 
dringlichen Farben  recht  deutlich  geschildert.  Diese  Ausstellung  will  besagen:  aufgepasst,  wir 
Schweizer  sind  da!  Uns  will  scheinen,  die  Schweizer  wären  gar  nicht  so  uneben,  wenn  sie  nur 
nicht  so  gross  täten  und  etwas  bescheidener  auftreten  würden,  etwa  so  wie  ihr  Landsmann  Welti 


Karl  Zietjler.     Bildnis  der  Frau  Stutz 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


bei  uns,  der  in  einer  recht  unauffälligen 
Weise,  eben  in  der  Art  des  Bilderbogens 
sagt,  was  es  in  der  Weit  alles  Schönes  gibt. 
Vor  Jahren  war  auch  schon  einmal  ein 
Schweizer  bei  uns  zu  Gaste,  der  sich  uns 
als  ein  feiner  Künstler  vorstellte.  Es  war 
Hans  Sandreuter.  Heute  lernen  wir  Hodler 
kennen.  Für  beide  Künstler  wurde  von  vielen 
Seiten  gekämpft  und  gestritten.  Hodler  oder 
Sandreuter,  Sandreuter  oder  Hodler?  Wie 
auch  das  Feldgeschrei  bei  den  Schweizern 
lautet,  ist  uns  gleich.  Wir  glauben,  es 
müsste  jeder  sehen,  wohin  der  Weg  auf 
beiden  Seiten  führt.  Treten  wir  aus  der 
Schweizer  Abteilung  in  die  italienische  ein, 
da  wird  uns  ein  Eindruck,  wie  wenn  wir 
eben  eine  Bergwiese  mit  sattgrünen  Kräutern 
und  Gräsern  und  vielen  bunten  Blumen  da- 
zwischen mit  einem  Treibhaus  mit  schwüler 
dumpfer  Luft  und  einer  matten,  ersterbenden 
Vegetation  vertauschten.  Viele  Bilder  hängen  wie  verblühte  welke  Blumen  an  den  Wänden.  Und 
erst  Spanien!  Wo  ist  der  farbenfreudige  Abglanz  südlichen  Lebens,  wo  der  Farbenreiz  und 
Zauber  aus  den  blühenden  Gärten  von  Granada,  der  unser  Auge  einst  entzückte;  wo  sind  alle 
diese  herrlichen  Bilder  eines  Benlliure,  Echena,  Viniegra,  Gallegos  und  wie  sie  alle  heissen?  Der 
heitere  Farbenrausch  ist  verflogen,  eine  ziemliche  Ernüchterung  ist  darauf  gefolgt.  Was  wir 
schon  vor  Jahren  aussprachen,  „zum  Teufel  ist  der  Spiritus,  das  Phlegma  ist  geblieben-,  muss 
heute  noch  mit  grösserem  Nachdruck  wiederholt  werden.  Der  neue  Stern,  der  am  spanischen 
Kunsthimmel  leuchtend  aufgegangen  ist  —  Zuolaga  —  ist  bei  uns  nicht  sichtbar.  Leider,  er 
hätte  seine  Landsleute  hieher  geleiten  sollen, 
um  ihr  Prestige  zu  retten. 

Besuchen  wir  nach  den  Spaniern  und 
Italienern  die  Franzosen,  so  erwartet  uns 
auch  hier  eine  ziemliche  Enttäuschung. 
Man  weiss,  was  man  mit  dem  Worte  Laden- 
hüter für  eine  Ware  bezeichnet.  Ähnlich 
verhält  es  sich  bei  vielen  dieser  Bilder. 
Man  gewinnt  den  Eindruck,  als  dächten 
die  Franzosen,  die  schon  einmal  getragenen 


Wall  her  Thor.    Damenbildnis 


Offn  SindfHff.    Loloten 


Walter  Thor  pinx. 


Pliot.  f.  HaiiltsUcnKl,  München 


Prinzregent  Luitpold   von  Bayern 


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Dlt  KUNST  UNSERER  ZEIT 


203 


Friedrich  Kallmorgeii .    Sonnenglanz  (Hamburger  Hafen) 


und  nunmehr  abgelegten  Kleider  seien  für  eine  derartige  Repräsentation  noch  gut  genug.  Erst 
nachträglich,  nachdem  dieser  Bericht  schon  geschrieben  war,  haben  sie  sich  noch  mit  einer  Kollektion 
guter  Bilder  eingestellt.  Hoffentlich  ziehen  wir  aus  diesem  Fall  die  rechte  Nutzanwendung.  Um 
eine  kleine  englische  Kollektion  vorführen  zu  können,  mussten  eigene  Delegierte  über  den  Kanal. 
Entspricht  nun  das  Resultat  unserer  Bemühungen  den  gehegten  Erwartungen?  Keinesfalls  können 
uns  die  hier  vertretenen  Bilder  einen  Begriff  von  englischer  Kunst  geben.  Auch  hier  müssen  wir 
wieder  das  alte  Lied  anstimmen:  das  Beste  ist  nicht  feil  und  das  Mittelmässige  schafft  nur  Lange- 
weil. Schweden,  Dänemark  und  Norwegen  haben  doch  einige  gute  Landschafter  geschickt,  und 
Holland  ist  wie  immer  dank  seiner  auf  solider  Basis  handwerklicher  und  künstlerischer  Tradition 
ruhenden  Produktion  vorzüglich  vertreten.  Bei  der  Betrachtung  einiger  Gruppen  österreichischer, 
böhmischer  und  polnischer  Künstler  müssen  wir  noch  eine  andere  Seite  des  Ausstellungswesens 
berühren,  die  Frage  der  räumlichen  dekorativen  Ausstattung.  Man  hat  heuer  eine  eigene  Aus- 
schmückungskommission eingesetzt  und  hat  neuerdings  versucht,  das  alte  gläserne  Gehäuse  des 
Glaspalastes,  Kristallpalast  heisst  es  auf  einigen  offiziellen  Plakaten,  durch  verschiedene  Einbauten 
und  Zwischenwände  zu  verschönen.    Es  sind  dadurch  manche  gefällige  Räume  geschaffen  worden, 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


aber  im  grossen  Ganzen  bleibt  es  doch  beim  Alten.  Volle  Anerkennung  verdient  die  Reinigung 
des  Daches,  wodurch  endlich  wieder  einmal  Licht  in  die  Ausstellung  gekommen  ist.  Es  ist  um 
vieles   heller   und    freundlicher   geworden   und    man    hat    auch  diesen  Charakter  in  der  deutschen 


Copyright   I9<5  Ity  Fmnz  llAnfntjirni:) 

Wilhehii  Meiizler.     Aus  sonnigen  Jugendtagen 


Abteilung  mit  Geschmack  und  Geschick  in  der  ganzen  äusseren  Ausstattung  festgehalten.  Zu 
einigen  merkwürdigen  Versuchen  von  Ausstattungen  kam  es  bei  den  Wienern,  Böhmen  und  Polen. 
Die  Wiener  Künstiergenossenschaft  hat  ihre  Aufgabe,  eine  vornehme  freundliche  Umgebung 
für  ihre  Bilder  zu  schaffen,  geschmackvoll  durchgeführt,  dagegen  sind  die  Einbauten,  mit 
ihren  verschiedenen  Kabinetten,  in  denen  Wiener  Sezession  und  böhmische  Künstler  ausgestellt 
haben,  von  keinem  gerade  künstlerischen  Geiste  eingegeben.  Man  denkt  dabei  an  ähnliche  Vor- 
führungen  von   Tapezierern    und    Möbelfabrikanten    auf   Gewerbe-    und    Weltausstellungen.     Einen 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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sehr  ungleichen  Eindruck  hinterlässt  das  Kabinett  der  polnischen  Künstler.  Der  Charakter 
einer  Gemälde-  oder  vielmehr  der  einer  Kunstausstellung  sollte  doch  im  einzelnen  wie  im 
ganzen  gewahrt  bleiben.  Wären  natürlich  von  Anfang  an  günstige  und  möglichst  gleich- 
wertige Ausstellungsräume  vorhanden,  so  kämen  solche  Ausschreitungen  nicht  vor.  Unter  den 
jetzigen  Verhältnissen  wird  sich  das  Bestreben,  durch  möglichst  effektvolle  Mittel  die  Aufmerksam- 


Fratiz  riin  Dofiegtjer.     Gefährlicher  Besuch 


keit  des  Publikums  auf  sich  zu  ziehen,  nicht  hintanhalten  lassen.  Wir  meinen  aber,  wo  Gutes 
in  künstlerischer  Hinsicht  geboten  wird,  braucht  es  keiner  Kniffe  und  Effekte  wie  auf  Jahr- 
märkten. Dieses  Prinzip  führt  schliesslich  dazu,  dass  die  Bilder  der  Dekoration  wegen  da  sind 
und  das  Auge  des  Beschauers  von  ihnen  weg  auf  die  Dekoration  geleitet  wird.  Das  wäre 
aber  doch  so  ziemlich  das  Gegenteil  von  dem,  was  die  Ausstellung  eigentlich  bezweckt.  Sie  will 
doch  in  erster  Linie  eine  Übersicht  über  das  geben,  was  in  der  Malerei  zurzeit  geschaffen  wird : 
das  rein  künstlerische  Moment  soll  darin  hervortreten.  Der  Geniessende  soll  in  diesen  Räumen 
die  Kunst  der  Gegenwart  versammelt  finden,  die  Kunst,  die  sich  in  ihren  mannigfaltigsten  Aus- 
drucksformen dem  Beschauer  darbietet.  Im  Hause  der  Kunst  gibt  es  viele  Wohnungen  mit 
verschiedenen  Parteien ;  sie  sollen  im  friedlichen  Wettstreit  ihre  Kräfte  miteinander  messen  und 
neben  einander  wohnen.     Jeder  soll  in  seinen  Schöpfungen  die  Welt  ausdrücken,  die  er  sich  vor- 


206 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Karl  Thoma-Höfele.    Stilleben 


stellt,  die  Welt,  in  der  er  lebt,  liebt  und  leidet.  Man  kann  nichts  anderes  in  der  Kunst  wollen, 
als  was  man  natürlicherweise  denkt,  fühlt  und  empfindet.  Das  alte  Wort  „l'art  pour  l'art"  hat  nur 
bedingte  Geltung.  Jede  künstlerische  Inkonsequenz  rächt  sich.  Man  soll  bei  der  Stange  bleiben, 
mögen  Richtungen  und  Strömungen  in  der  Kunst  treiben,  wohin  sie  wollen.  Wir  können  uns  an 
der  Isar  nicht  darum  kümmern,  was  gerade  an  der  Seine  Mode  ist.  Es  war  wichtig  für  uns,  dass 
wir  bei  den  Franzosen  malen  lernten,  als  wir  es  noch  nicht  konnten ;  mehr  können  sie  uns  nicht 
geben.  Wir  müssen  uns  auf  uns  selbst  besinnen  und  aus  unserem  Eigenen  schöpfen.  Die 
sogenannten  Genremaler  haben  gar  keine  so  üble  malerische  Bildung.  Sie  haben  es  schon  lange 
gewusst,  worauf  es  ankommt  und  haben  sich  an  gewisse  unverrückbare  Werte  und  Ausdrucks- 
formen gehalten.  Sie  sind  die  Bewahrer  und  Hüter  der  guten  Tradition.  Was  für  eine  gediegene 
Sache  ist  z.  B.  die  malerische  Behandlung  des  Raumproblems,  wie  wir  es  von  den  alten  Holländern 
übernommen  haben.  Als  die  deutsche  Kunst  in  den  60er  und  70er  Jahren  wieder  einmal  in  die 
Lehre  ging,  hat  sie  damit  angefangen,  die  farbige  Stimmung  im  Räume,  Licht  und  Schatten- 
wirkung, die  farbige  Erscheinung  der  körperlichen  Gegenstände,  die  Menschen  und  ihre  vielfachen 
Beziehungen  zu  dieser  Umgebung  zum  Augsangspunkt  ihrer  Darstellung  zu  machen.  Leibl, 
Defregger  und  Grützner  haben  sich  dieser  Probleme  wieder  bemächtigt;    insbesondere  Defregger, 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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indem  er  sein  malerisches  Auge  jenen  so  reiz- 
vollen Interieurs  tirolischer  Bauernstuben, 
Küchen  und  Scheunen  zuwandte.  Die  von 
Balken  durchzogene  Holzdecke  gibt  ein  ge- 
eignetes Mittel  an  die  Hand,  durch  perspek- 
tivische Linien  das  Auge  in  die  Tiefe  zu 
führen  ;  der  Ofen,  der  Tisch,  die  Bank,  alles 
dient  dazu,  uns  die  ganze  Ausdehnung  des 
Raumes  recht  deutlich  sichtbar  zu  machen. 
Das  Licht,  das  durch  ein  Fenster  oder  durch 
eine  geöffnete  Türe  eindringt  und  auf  der 
glatten  Diele  des  Bodens  das  Fensterkreuz 
in  schwarzen  deutlichen  Strichen  abzeichnet 
und  an  den  Gegenständen  im  Räume  an- 
prallt und  dadurch  wiederum  starke  Kon- 
traste von  Licht  und  Schatten  hervorruft,  er- 
zeugt auch  wieder  neue  farbige  Eindrücke. 
Es  ruft  Farben  hervor,  weckt  die  verschieden- 
artigsten Töne,  indem  es  die  Dinge  be- 
leuchtet. Welche  Fülle  malerischer  Erschei- 
nungen entfaltet  sich  im  Räume? 

Die  Erscheinung  des  Räumlichen  ganz    in    eine   einheitliche  Farbstimmung   getaucht,  stellt 
Adolf  Heller  in  einem  hübschen  Interieur  dar.     Man  sieht  in  ein  Zimmer,  auf  einen  gedeckten 

Tisch  und  von  da  aus  durch  eine  geöffnete  Türe  in 
ein  zweites  dunkleres  Gemach.  Ein  ähnliches  Problem 
behandelt  auch  Walter  Püttner  in  der  Stube  einer 
Näherin  mit  aufgestellten  Kleiderstöcken.  Diese  selbst 
sind  nur  da,  um  ein  Bouquet  von  zartgestimmten 
duftigen  Farben,  einen  reizvollen  Kontrast  zu  der 
übrigen  Umgebung  abzugeben.  Von  einem  ziemlich 
hell  erleuchteten  Zimmer  sieht  man  wieder  in  ein 
weiteres  ziemlich  dämmeriges  Gelass.  Es  ist  klar, 
warum  die  Maler  so  gerne  bei  der  Darstellung  von 
Interieurs  verweilen.  Solche  Ansichten  geben  Ge- 
legenheit zu  räumlichen  Darstellungen  und  gewähren 
dem  Maler  Spielraum  zur  Entfaltung  aller  möglichen 
farbigen  Reize.  So  hat  z.  B.  Max  Gaisser  ein 
kleines    Interieurstück    gemalt ,    in    dem    der    Haupt- 

XVI  31 


Alexander  Fiikn.     Bildnis 


Eiiieiil;  Steiihfiji.     Mädchen  aus  Daleicuriien 


208  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

reiz  auf  einem  Stilleben  von  Kostümen,  Hüten,  Waffen  liegt,  die  auf  einem  Tiscfie  ausgebreitet 
sind  und  die  durch  das  seitlich  einfallende  Licht  beleuchtet  werden.  Eine  weitere  wertvolle 
Anregung  wird  dem  Maler,  dass  er  mit  dem  Räume  zugleich  auch  die  Bewohner  darstellt. 
Das  Interieur  ist  vielfach  nur  Mittel  zum  Zweck.  In  einem  Bilde  von  Oskar  Höcker  wird  uns 
ein  Einblick  in  eine  helle  freundliche  Stube  mit  einer  Einrichtung  aus  unserer  Vorväterzeit.  Am 
Ofen  sitzt  ein  biederer  Alter.  Durch  die  Fenster  scheint  die  Sonne  und  legt  helle  blanke  Licht- 
tafeln auf  den  Fussboden.  Eine  ganz  andere  Zeit  und  andere  Menschen  schildert  uns  in  einem 
überaus  prächtig  ausgestatteten  Interieur  Claus  Meyer.  Das  Licht  fällt  durch  ein  seitlich 
angebrachtes  Fenster,  von  oben  herab  und  hüllt  den  ganzen  Raum  in  ein  angenehmes  wohliges 
Dämmerlicht.  Es  spielt  auf  dem  prächtigen  Ornament  der  Tapeten  von  schwerem  Goldbrokat, 
huscht  über  den  schöngemusterten  Teppich  auf  dem  Tisch  und  glänzt  und  schimmert  auf  allerlei 
Dingen,  die  da  ausgebreitet  liegen.  Am  liebsten  aber  verweilt  es  auf  dem  hübschen  rosigen 
Gesicht  eines  jungen  Mädchens,  es  umschmeichelt  den  schönen  Hals  und  die  blossen  Schultern, 
glitzert  und  gleisst  in  den  Falten  des  seidenen  Rockes  und  verbreitet  so  viel  Zauber  und  Reize 
um  die  anmutige  Gestalt,  dass  es  einem  ordentlich  Freude  macht,  darauf  hinzusehen.  Neben 
dem  Mädchen,  mit  dem  Rücken  gegen  den  Beschauer  gekehrt,  steht  ein  junger  Mann  mit 
breitrandigem  schwarzen  Hut  auf  dem  Kopfe,  ganz  in  Schatten  getaucht  —  ein  kräftiger,  aber 
doch  weicher  Kontrast  zu  der  lichten  Erscheinung  des  Mädchens.  Das  Licht  schwebt  und  webt  um 
die  beiden,  schafft  so  trauliche  heimfreudige  Stimmung,  wie  sie  nur  so  junge  glückliche  Menschen 
erfüllen  kann. 

Weniger  behaglich  mutet  uns  Echtlers  Bild  „Agonie"  an.  Hier  sind  lauter  starke 
Kontraste  von  hell  und  dunkel,  farbenfreudiges  Leben  und  erstorbener  matter  Schimmer,  fahles 
Scheinen  des  Lichtes  und  schwermütiges  melancholisches  Vibrieren  einer  schwarzschattenden 
Dämmerung,  ganz  die  Stimmung,  wie  sie  das  Lager  von  Sterbenden  umschwebt.  Die  Farbe 
bildet  gleichsam  die  Melodie  zu  diesem  traurigen  Thema  zu  dem  alten  Lied  von  Leben  und 
Tod.  Wiederum  helle  Daseinsfreude  strahlt  uns  aus  dem  Bilde  von  Hermann  Knopf  „Beider 
Arbeit"  entgegen.  An  sonnenbeschienenem  Fenster,  am  Plättisch  schaltet  ein  junger  Blondkopf 
mit  frisch  gestärktem  weissen  Häubchen  rührig  mit  dem  heissen  Eisen.  Die  jungen  rundlichen 
Arme  sind  an  Hausarbeit  schon  gewöhnt.  Es  ist  alles  sauber  und  nett  in  der  ganzen  Umgebung, 
so  reinlich  und  ordentlich,  wie  es  nur  immer  in  einem  Haushalt  sein  kann.  Dass  das  malerische 
Element,  das  eingehende  Studium  der  Licht-  und  Tonwerte  einer  Erscheinung  im  Räume  nicht 
verloren  geht,  dafür  sorgen  schon  die  geschickten  Meister  des  Pinsels  und  der  Palette.  „Mädchen 
im  grünen  Interieur"  heisstKarl  Bios  ganz  sachlich  und  bescheiden  ein  entzückend  stimmungs- 
volles Bild.  Diese  lichterfüllte  grüne  Dämmerung  löst  in  uns  die  Stimmung  aus,  in  der  wir  uns 
am  liebsten  unseren  Erinnerungen  und  Träumen  überlassen.  In  dieser  grünen  Dämmerung  ist 
ein  der  Musik  verwandtes  Element.  —  Es  ist  ein  hoher  Gcnuss  für  das  Auge,  mit  einem  Zuge, 
diese  weiche  und  gesättigte  Tiefe  und  Fülle  der  grünen  und  tieflila  Töne  aufsaugen  zu  können, 
um  CS  wieder  in  mannigfachen  Empfindungen  ausströmen  zu  lassen. 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


209 


Aluix  Iluiis  Scliruiii.     Am  Landungsstejf 


Stimmungsmalerei   auf  der  gefestigten 

Grundlage  eines  soliden  Könnens  ist  auch 

Robert  Weises    „Blaue   Stunde".     Der 

Zauber  der  blauen  Stunde,  wie  er  zu  Be- 
ginn   der  Nacht    die  Erde  umfangen    hält, 

hat    auch    die    junge  Frau    an    das    offene 

Fenster    gebannt.     Vor    ihr    erglänzt    der 

Spiegel    des    Sees    wie   eine    ebene    Platte 

von    Lapis  lazuli.     Die    Lüfte   weiten   sich, 

der  ganze  Raum  ist  erfüllt  von  der  Magie 

und    dem    Reize    einer    herrlichen    blauen 

Farbe;  eine  Farbe,  die  die  Sehnsucht  weckt 

und    alte    längst    entschwundene   Träume. 

Fritz  E  r  1  e  r  hat  auch  so  eine  schöne  junge 

Frau  gemalt,  die  am  Fenster  steht,  draussen 

sieht  man  einen  gewitterschweren  Himmel, 

in  den  einige  Vögel    ihre  schnellen  Flügel 

tauchen,    gleich    Rudern    von    Seglern    in 

einer   dunklen  Flut.     Rein    malerische    Interessen    veranlassen  Gotthard   Kühl,   gewisse    Räume 

aufzusuchen.     So    ein    altes    Brauhaus    ist   ein    echter   Malerwinkel,    in    dessen    dumpfer,    feuchter 

Atmosphäre    merkwürdige    Farben   in    allen    möglichen  Nuancen    zu    finden    sind.     Für  Kühl   aber 

mögen  besonders  zweierlei  Gelb, 
ein  helles  leuchtendes  und  ein 
dumpfes  gebrochenes  Gelb,  das 
Anziehendste  in  der  ganzen 
Farbenharmonie  gewesen  sein. 
Diese  zwei  gelben  Töne  bilden 
sozusagen  das  Grundmotiv  für 
die  malerische  Harmonie  des 
Bildes  und  die  übrigen  Farben- 
töne die  Begleitung  dazu.  Gegen- 
wärtig spielt  sich  alles  darauf 
hinaus:  dieses  Bild  ist  eine 
malerische  Variante  in  gelb,  ein 
anderes  in  grau,  grün,  ein  drittes 
in  rot  usw.  Bei  dieser  Dar- 
stellungsweise   ist    es    natürlich 

Kall  Kästner.    Vorfrühling  am  Altrhein  (Motiv  aus  Rheinhessen)  gleich,      was      dargestellt      wird. 


210 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Verlangt  man  aber  nicht  bloss 
Augenweide,  sondern  auch  Augen- 
freude, so  muss  man  in  der  Aus- 
wahl des  Motivs  schon  etwas 
wählerischer  sein.  Geffken  ge- 
nügt dieser  Forderung.  In  seiner 
„Visite"  führt  er  uns  ein  Paar 
Damen,  eine  jüngere  und  eine 
ältere,    in    der   Umgebung    eines 

behaglich  eingerichteten  vor- 
nehmen Hauses  vor.  Die  Technik 
ist  ganz  eigen,  sogenannte  ÖI- 
vvischmanier.  Ein  brillanter  Öl- 
maler  ist  ferner  Borchardt,  der 
bei  seinen  kleinen,  kaum  einen 
Quadratfuss  grossen  Bildchen  den 
Pinsel  mit  einer  Energie  zu  führen 
weiss,  dass  uns  die  Totalität  einer 

farbigen  Erscheinung  in  der 
ganzen  Frische  und  Unmittelbar- 
keit entgegentritt.  Doch  geht  er 
darin  nicht  zu  weit.  Denn  nichts 
widerstrebt  mehr  der  Kleinmalerei 
als  eine  skizzenhafte  Technik.  Das 
Kabinettbild  soll  für  eine  nahe 
liebevolle  Betrachtung  geschaffen 
sein,  es  soll  wie  in  einem  Spiegel  alles  klar  und  deutlich  zeigen,  ohne  dass  sich  dabei  das 
Detail  zu  sehr  breit  macht.  Borchardt  weiss  das  auch.  In  einem  zweiten  Bildchen  „Zu  Hause" 
ist  der  malerische  Gesamteindruck  noch  besser  zusammengehalten,  das  Ganze  noch  toniger 
gestimmt.  Die  Schwierigkeit,  vielerlei  Dinge  zu  einer  einheitlichen  Wirkung  zu  bringen,  wächst 
mit  der  Fülle  und  der  Reichhaltigkeit  des  Motivs.  Seiler  gibt  in  seinen  Bildern  „Sieges- 
nachricht" und  „Marketenderin"  treffliche  Schilderungen  aus  dem  Leben  des  18.  Jahrhunderts. 
Trotz  aller  Mannigfaltigkeit  an  Interessanten  Einzelerscheinungen  ist  das  Ganze  doch  bildmässig 
zusammengestellt.  Ein  feiner,  grünlich  grauer  Gesamtton  liegt  über  dem  Ganzen,  aus  dem  nur 
einzelne,  warme  gesättigte  oder  kühle  graue  Farben  eine  bestimmte  Note  und  eine  entschieden 
koloristische  Haltung  hervorbringen.  Die  Zeit  des  Rokoko  eignet  sich  natürlich  ganz  hervorragend 
für  derartige  malerische  Vorwürfe.  Menzel  hat  das  wohl  erkannt,  als  er  sich  in  dieser  Welt 
umsah.     Nicht    umsonst   ist   er    immer   wieder   nach  Süddeutschland    gezogen.     Unsere    schönen 


M.  ücItiMt.     Waschtag 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


211 


Rokoko-  und  Barockkirchen  mit  ihrem  unsagbaren  Zauber  und  ihren  malerischen  Reizen  zogen 
ihn  an.  Hier  ist  noch  eine  Domäne  des  farbenfreudigsten  prächtigsten  Lebens  zu  finden.  Eine 
wahre  Farbenschachtel  tut  sich  auf  und  es  schimmert,  leuchtet  silbern,  golden,  scharlachrot,  lichtgelb, 
zartrosa,  grau,  kurz  alle  Töne  einer  reich  besetzten  Palette  sind  vorhanden.  Was  bergen  unsere 
Schlösser,  Bayreuth,  Ansbach  u.a.  noch  für  farbige  Wunder.  Löwith,  ein  genauer  Kenner  dieser 
Zeit,  führt  uns  in  seinen  Interieurstudien  in  eine  alte  Bibliothek.  Ein  wahres  Kabinettstück  der 
Kleinmalerei,  eine  Schilderung  des  geselligen  Lebens  aus  dem  18.  Jahrhundert,  führt  uns  Löwith 
in  feinpointierten  charakteristischen  Zügen  in  dem  Bildchen  „Neuigkeiten"  vor  Augen.  Rücken 
wir  mit  der  Zeit  etwas  vor  ins  Empire  hinüber  und  versetzen  wir  uns  wiederum  in  die  Welt 
eines  feinen  Hauses,  wo  bereits  an  Stelle  der  geschweiften  Möbel  mit  den  krummen  Füssen,  Tische 
und  Stühle  mit  steifen  geraden  Beinen,  Verzierung  und  Schnitzwerk  ä  la  grecque  gehalten,  stehen. 
Welch  ein  anmutiges  Geschlecht,  was  für  feine  interessante  Damen  und  was  für  schöne  ritterliche 
Männer  beleben  diese  Räume!  In  allem  ist  noch  etwas  von  der  Lebenskunst  und  der  Grazie 
des  Rokoko  zu  verspüren  und  Meister  S  i  m  m  weiss  dieses  Leben  mit  geschickter  Hand  malerisch 


Pliilipp  Klein.    Vor  der  Abreise 


212 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


reizvoll  zu  schildern.  Menzler  freut  sich  in  seinem  Bilde  „Aus  sonnigen  Jugendtagen"  an  der 
Wärme  eines  schönen  Herbsttages  mit  den  zwei  jungen  Leuten,  denen  noch  kein  Sommer  und 
Herbst  erblüht  ist. 

Verlassen  wir  dieses  lockende,  werbende  Leben  da  draussen  in  der  Welt  und  treten  in  die 
stillen  geweihten  Räume  eines  Klosters  ein.  Ein  freundlicher  Schimmer,  ein  verlorener  Sonnen- 
strahl führt  uns  in  das  Gemach,  in  dem  zwei  Brüder  der  Frau  Musika  huldigen.  Violine  und 
Cello  ertönen,  ein  Duett  ist  im  Gange.  Ganz  für  sich  in  hingebender  Gottesminne  huldigt  eine 
Nonne  der  seligen  Jungfrau.  Vor  dem  Altar  lässt  sie  ihre  Geige  ertönen,  eine  andächtige  innige 
Weise  durchdringt  den  Raum.  „Maiandacht"  nennt  Hermann  Kaulbach  dieses  schöne  Bild. 
Adolf  Eberle  und  Matthias  Schmid  bringen  aus  ihrem  alten,  ihnen  vertrauten  Gebiet, 
aus  dem  Leben  der  Gebirgsbauern,  allerlei  Hübsches  und  Beschauliches.  Dass  gerade  in  der 
deutschen  Abteilung,  vorzüglich  unter  den  Münchenern,  das  Interieur  und  die  Schilderung  des 
heimischen  Lebens  einen  so  grossen  Platz  in  der  gesamten  Produktion  einnimmt,  ist  nicht  eben 
eine  zufällige  Erscheinung.  Es  Hesse  sich  an  der  Hand  der  Kataloge  unserer  jährlichen  Ausstellungen 
leicht  nachweisen,  dass  in  der  Malerei  nächst  der  Landschaft  die  Darstellung  unserer  nächsten 
Umgebung,  vor  allem  des  Hauses,  die  meisten  Vertreter  findet.  Darin  offenbart  sich  unser 
Charakter,  unser  Wesen  aufs  beste.  Neben  der  Freude  an  der  schönen  Natur  ist  es  das  Heim- 
gefühl,  das  in  uns   am  stärksten  entwickelt    ist,    und    diese  Empfindung   kommt  selbstverständlich 

auch  in  der  Kunst  zum  Ausdruck. 

Neben  dem  Schilderer  des  Volkslebens, 
Defregger,  hat  auch  der  gediegenste  Meister 
der  Palette,  Leibl,  hierin  das  allerbeste  seiner 
Kunst  gegeben.  Es  ist  gewiss  kein  Zufall, 
dass  gerade  die  Nationen,  bei  denen  das 
Haus  und  Heim  eine  grosse  Rolle  spielt, 
nächst  den  Deutschen  die  Holländer,  die 
Dänen  und  Schweden,  die  Interieurmalerei 
gepflegt  und  ausgebildet  haben.  Am  stärksten 
offenbart  sich  diese  Neigung,  sowohl  nach 
der  Seite  der  Darstellung  gemütlicher  Zu- 
stände, als  auch  nach  der  des  rein  male- 
rischen Ausdruckes,  bei  den  Holländern. 
Diese  erweisen  sich  darin  als  die  wahr- 
haftigen Erben  einer  grossen  Tradition.  Wir 
können  nicht  unterlassen,  im  Zusammen- 
hange mit  dem  bisher  Geschilderten  auf 
das  Zunächstliegende  in  der  ausländischen 
cu„.,  ro„  H.Hi,;,hm,se„.   Leonore  Abteilung  hinzuweisen :    Israels  steht  uns 


DIE  KUNST  UNSERER   ZEIT 


213 


mit  seinen  Bildern,  in  denen  die  ganze  Heimseligkeit  des  holländischen  Hauses  zum  Ausdruck 
kommt,  am  nächsten.  Vor  Israels  Bild  „Das  stille  Mütterchen"  geht  dem  gefühlvollen  Beschauer 
das  Herz  auf.  Daraus  spricht  ein  schlichtes  menschliches  Empfinden,  was  weit  mehr  ist  als  alle 
Kunst   der  Malerei.     Im    wirklichen    Sinne    äussert    sich    gar    keine  Kunst    in    seinen  Bildern,    das 


heisst  keine  Kunst, 
die  auf  bestimmten 
Regeln  und  Voraus- 
setzungen aufgebaut 
ist  und  in  der  Lösung 

eines  bestimmten 
formalen  Problems 
ihr  Ziel  findet.  Israels 
Kunst  ist  nicht  syste- 
matisch auf  be- 
stimmten Prinzipien 
aufgebaut,  höchstens 
ist  sie  psychologisch 
begründet  als  der 
unmittelbare  Aus- 
druck individuellen 
Empfindens.  Lieber- 
mann drückt  dies 
in  einem  Aufsatze 
über  Israels  einmal 
so  aus:  „Israels  malt 
noch  Bilder;  Bilder 
mit   literarischem 


Floris  Am tzc Hills.     Nach  dem  Regen 


Inhalt.  Ihm  ist  die 
Malerei  noch  Mittel 
zum  Zweck,  sie  ist 
ihm  das  Werkzeug 
zur  Wiedergabe  sei- 
ner Empfindungen. 
Er  will  nicht  den 
Innenraum  malen, 
sondern,  wenn  ich 
mich  so  ausdrücken 
darf,  die  Psychologie 
des  Raumes.  Er  malt 
den  Kessel  mit  dem 
singenden  Wasser 
oder  das  knisternde 
Feuer  auf  demHerde, 
um  die  Heimlichkeit 
des  Stübchens  aus- 
zudrücken." Das  ist 
es,  was  uns  an  Israel 
so  gefällt,  was  ihn 
uns  Deutschen  so 
lieb   und  vertraut 


macht,  die  Innerlichkeit,  die  Poesie,    die  aus  seinen  Schöpfungen  herausleuchtet. 

Es  ist  ganz  interessant,  Kunstwerke  auch  einmal  von  der  technischen  Seite  aus  zu  betrachten, 
„denn  es  ist  ungeheuerlich  viel  Handwerkliches  in  der  Kunst,  viel  Probieren  nötig,  viel  mechanische 
Arbeit."  Es  kommt  gar  viel  auf  die  Ausdrucksweise  an,  es  gilt,  den  kürzesten  und  sichersten 
Weg  zu  finden  für  das,  was  man  zu  sagen  hat.  Der  gemütliche  Betrachter  und  Ausstellungs- 
bummler braucht  sich  allerdings  um  diese  Fragen  nicht  zu  kümmern,  für  den  existiert  in  erster 
Linie  nur  der  Gesamteindruck  —  das  Bild.  Aber  es  schadet  gar  nichts,  wenn  sich  der  Liebhaber 
auch  einmal  mit  diesem  Teil  der  Kunst  etwas  beschäftigt.  Es  wird  ihm  vieles  verständlicher 
werden,  er  wird  den  innigen  Zusammenhang  der  technischen  Gestaltung  mit  dem  künstlerischen 
Ausdruck  erkennen  und  dabei  bemerken,  wie  innig  Malweise  und  Stil  miteinander  zusammen- 
hängen. 


214 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Leo  Samberger.     Bildnis  des  Dr.  Schnitzler,  Köln 


In  Zeiten,  da  der  Kunst  im  allgemeinen 
wenig  Bedeutung  zukommt  und  sie  nur  ein 
kümmerliches  Dasein  fristet,  da  steht  auch 
die  technische  Ausbildung  der  Maler  auf 
einer  niederen  Stufe.  In  kunstfrohen  Zeiten 
hingegen  ist  die  hohe  technische  Aus- 
bildung Gemeingut  aller  Künstler.  Die 
Früheren  waren  im  Besitze  einer  reichen 
Tradition,  sie  konnten  darum  in  ihrer  Art 
Reifes  und  Vollendetes  schaffen.  Wir  sehen 
z.  B.  die  Technik  der  Freskomalerei  Ein- 
fluss  auf  den  Stil  der  italienischen  Malerei 
gewinnen  und  ihren  eigenartigen  Charakter 
mit  ausprägen  helfen.  Nicht  weniger  an- 
regend hat  die  Ölmalerei  auf  die  nieder- 
ländische Kunst  gewirkt.  Die  neuere  deutsche 
Malerei  lag  im  Anfange  des  19.  Jahrhunderts 
schwer  darnieder,  weil  die  Maler  nicht  mehr 
malen  konnten !  Leibl  war  der  erste,  der  das 
verachtete  Handwerk  in  der  Kunst  wieder  zu 
Ehren    brachte.     Man    kann    ihn    den    Be- 


gründer einer  rein  ,, malerischen  Malerei"  nennen.  Leibl  hatte  es  den  Alten  abgesehen,  wie  sie  mit 
Pinsel  und  Palette  hantierten.  Auch  dem  französischen  Maler  Courbet  verdankte  er  viel.  Die  Farbe 
war  sein  natürliches  Element.  Er  setzte  mit  sicherem  Pinsel  Strich  an  Strich.  Leibl  malte  seine  Bilder 
herunter,  indem  er  an  der  Leinwand  oben 
anfing  und  unten  aufhörte,  alles  in  nasser 
Farbe.  Darin  liegt  die  ganze  Weisheit  der 
Ölmalerei.  Die  Farben  wachsen  zusammen 
und  ergeben  einen  schönen  samtartigen 
Ton,  einen  eigenen  Schmelz  und  Email. 
Es  entsteht  beim  späteren  Verwachsen  der 
Farben  ineinander,  das  sogenannte  Alters- 
gold, ein  überaus  vornehmer  prächtiger 
Ton,  der  von  Kennern  sehr  geschätzt  wird. 
Dieser  Ton,  sozusagen  die  Patina  der  Öl- 
farbe, bedeutet  für  den  Kenner  der  Malerei 
dasselbe,  was  für   den  Feinschmecker  das        

Bukett    des    Weines    ist.  Jea»  l'nni  /■»iirnui.     Da»  Vortimmer  Monscigneurs 


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üeorK  Schuster-Woldaii  piiix.  Phol.  f.  ^anbtaengl,  München 

Mädchenbildnis 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


215 


Die  Ausstellung  enthält  ein  paar  Studienköpfe  von  Munkacsy,  vor  allem  einen  ungarischen 
Bauern  mit  dem  Schafpelz  um  die  Schulter,  einem  tuchenen  Wams,  Mütze  und  einer  Pfeife  von 
rotem  Ton  in  den  Händen.  Die  Farbe  ist  weich  und  flockig  hingesetzt.  Sie  gibt  das  Stoffliche, 
Haut,  Haare,  Wolle  etc.  täuschend  wieder.  Und  dabei  ist  doch  alles  gross,  breit  und  flächig 
gehalten  und  das  Kolorit  so  tief  und  satt,  wie  man  es  bei  neueren  Werken  selten  findet. 


Karl  liliiK.     Bildnis  des  Grafen  von  Moy 


Nicht  nur  Leibl  und  Munkacsy  sind  zu  nennen.  Auch  ältere  Münchener  Meister  haben  gezeigt, 
dass  man  um  1870 — 1880  sich  trefflich  aufs  Malen  verstand.  Was  hat  nicht  Defregger  für  herr- 
liche Studienköpfe  geschaffen !  Die  vor  kurzem  veranstaltete  Ausstellung  von  Defreggers  Werken 
bei  Heinemann  hat  Ölbilder   von   seltener   Schönheit  gezeigt.     Wie  malt  man  jetzt? 

Unter  den  Sezessionisten  ist  ja  das  Schlagwort  einer  malerischen  Maierei  zum  Glaubenssatz 
erhoben  worden,  sie  setzen  ihren  grössten  Ehrgeiz  darein,  malen  zu  können.  Zwei  Meister  sind 
es  vor  allem,  die  hier  tonangebend  sind,  Herterich  und  Zügel.  Von  dem  ersteren  ist  zwar 
auf  der  heurigen  Ausstellung  im  Glaspaiast  nichts  zu  sehen,  aber  nichtsdestoweniger  steht  er  doch 
sichtbar  hinter  manchem  jungen.  Man  erkennt  die  Herterichschüler  alle  an  der  besonderen  Art 
ihrer  Farbgebung.     Es  ist  immer  dieselbe  Melodie,  nur   in  verschiedener  Tonart,    bald   Dur,  bald 

XVI  32 


216 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Moll.  Bei  Zügel  und  seinen  Anhängern  ist  es  nicht  anders.  Zügel  wirkt  durch  seine  blendende 
Virtuosität  noch  verführerischer.  Er  reisst  zur  Nachahmung  hin.  Eine  Zeitlang  glaubte  man, 
nichts   wäre   leichter,    als   mit    einem    farbensatten  Pinsel    und    einer    reichbesetzten    Palette  ä  la 

Zügel   zu    arbeiten.     Die    Bilder    strahlten 

förmlich  feurige  Gluten  und  Sonnenhitze 
aus.  Eine  ungemeine  Buntheit  und  Farben- 
freudigkeit trat  zu  Tage.  Das  rein  de- 
korative Moment  überwog.  Dass 
dieses  Bestreben  sehr  bald  zu  allerhand 
bedenklichen  Effekten  in  der  Malweise  selbst 
führte,  können  wir  an  verschiedenen  Bildern 
beobachten.  Wir  dürfen  nur  darauf  achten, 
auf  welche  Weise  z.  B.  die  Erscheinung  des 
glänzenden  Sonnenlichtes  durch  die  Farbe 
auf  der  Leinwand  hervorgerufen  wird.  Das 
jetzt  dabei  beliebte  Verfahren  ist  folgendes : 
Die  tieferen  Stellen,  die  schattigen  Partien 
im  Bilde,  bedürfen  nur  wenig  Sättigung, 
es  genügt  ein  dünnflüssiger  Auftrag  von 
Farbe,  dagegen  müssen  die  lichten  und 
hellsten  Stellen  sehr  pastos  aufgetragen 
werden.  Dabei  läuft  der  Künstler  Gefahr, 
durch  die  stark  belichteten  Stellen  und 
Flecken  die  Form  zu  zerreissen  und  auf- 
zulösen. Es  ist  ein  Bild  von  Zügel  in  der 
Ausstellung,  das  eine  Schweineherde  unter 
Bäumen  in  der  Halbsonne  zeigt.  Man 
fragt  sich  zuerst,  was  soll  das  Durch- 
einander, das  Chaos  bunter  Farbflecken 
bedeuten.  Sind  es  Steine,  Laubmassen, 
Sträucher,  die  von  Sonnenblitz  getroffen  in  allen  möglichen  farbigen  Tönen  schimmern?  Erst 
durch  eine  Orientierung  im  Kataloge  erfahren  wir,  dass  wir  suhlende  Schweine  vor  uns  haben. 
Einen  ähnlichen  Fall  bietet  ein  Bild  von  Piepho.  Man  sieht  eine  junge  Dame  im  Garten 
beim  Frühstück.  Die  Morgensonne  umspielt  diese  in  Weiss  gekleidete  Gestalt.  Lichtflecken 
haften  da  und  dort,  besonders  im  Schosse  des  Mädchens,  in  dem  die  beiden  Hände  ruhen. 
Statt  der  Hände  sehen  wir  nur  ein  buntes  Durcheinander  rötlich  schimmernder  Farbflecken 
—  ein  geringer  Ersatz  für  ein  paar  hübsche  Hände.  Was  ist  schuld  an  dieser  unseligen 
Auffassung?     Nichts  anderes  als  ein  vager  Begriff  von  Naturwahrheit,  der  immer  noch  in  einigen 


Jiitbert  Weisa.     iJame  iii  ?)chwarz 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


217 


Robert  Wcinp.     Dämmerung 


Malerköpfen  spukt.  Die  Figur  gilt  nicht  mehr,  als  ein  Stilleben  und  ein  Stück  Landschaft.  Wie 
durch  das  Freilicht  die  Form  geschwächt  wird  und  nur  unklar  in  die  Erscheinung  tritt,  zeigt  auch 
„Die  Sommerweide"  von  Hayek.  Ein  weisser  Schimmel  im  Grünen,  Sonne  hinten  und  Sonne 
vorn,  mitten  darin  der  Schimmel  als  Beleuchtungsobjekt.  Mag  man  immerhin  das  Tier  als  eine 
zufällige  Erscheinung  in  der  Natur  betrachten  und  es  zum  blossen  Träger  und  Objekt  farbiger 
Erscheinungen  machen,  man  kann  die  Form  doch  nicht  ganz  ignorieren.  Ein  Überschuss  an 
malerischem  Gefühl,  ein  gewisser  Lyrismus  in  der  Farbe  führt  sehr  häufig  zu  Extremen.  Von  den 
zahlreichen  durch  Zügel  herangebildeten  Künstlern  steht  Schramm-Zittau  dem  Meister  am 
nächsten.  Aber  er  weiss  sich  klug  zu  beschränken,  indem  er  immer  Motive  sucht,  bei  denen  der 
starke    farbige  Ausdruck    der   Erscheinung   angemessen    ist.     Sein    Bild    stellt    Hühnervolk    in    der 


218 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Sonne  dar.  Ein  ganz  ähnliches  Motiv  behandelt  auch  Hubert  von  Heyden.  Grässel  malt 
wieder  mit  starker  naiver  Freude  an  dem  farbigen  Leben  sein  Entenvolk  am  Wasser  und  im 
Wasser.  Die  impressionistische  Darstellungsweise  feiert  ihre  Triumphe  in  einem  kleinen  Bildchen 
von  Angelo  Jank  „Heidi".  Wir  sehen  in  toller  Jagd  Herren  und  Damen  auf  flinken  Pferden 
über  Hürden  hinweg  ins  weite  Feld  hinaussetzen;  ein  Augenblicksbild,  wie  es  uns  zuweilen  der 
Kinematograph  vorführt.  Trotzdem  ist  es  dem  Maler  gelungen,  diesen  Moment  im  Bilde  in 
seiner  ganzen  Frische  und  Lebendigkeit  zu  fixieren.  Diese  temperamentvoll  hingesetzten  Striche, 
Punkte  und  Farbflecken  erzeugen  in  uns  augenblicklich  die  Vorstellung  einer  bewegten  momen- 
tanen Erscheinung;  Technik  und  künstlerische  Absicht  decken  sich. 

Die  modellierende  Kraft  vieler  nebeneinandergesetzter  Farbflecken  lassen  ein  paar  Studien- 
köpfe von  Walter  Püttner  erkennen.  Die  Pinselstriche  sind  in  einer  gewissen  rhythmischen 
Anordnung,  die  der  Form  des  Gegenstandes  entspricht,  breit  und  sicher  hingesetzt.  In  der  Nähe 
sehen  wir  wieder  nur  ein  Chaos  roter,  gelber,  brauner,  grüner  Flecken,  aber  in  einem  gehörigen 
Abstand  von  dem  Bilde  formuliert  sich  daraus  die  malerische  Erscheinung  des  gesunden  von  der 
Luft  und  Sonne  gebräunten  Kopfes  einer  Bauerndirne  im  Grünen.  Walter  Thor  arbeitet  ganz 
ähnlich,  nur  weniger  derb.  Er  vereinigt  schon  auf  dem  Bilde  die  Farbflecken  zu  einem  einheitlichen 
Gesichtseindruck,  wodurch  er  eine  viel  gleichmässigere  harmonischere  Gesamtwirkung  erzielt. 
Seine  Vortragsweise  ist  eleganter  und  feiner.  Eine  junge  Dame  in  Weiss,  vor  einen  grünen 
Hintergrund  gesetzt,  wirkt  sehr  vornehm.  Ein  sammetartiger  weicher  Ton  liegt  über  dem  Bilde 
einer  jungen  Frau  in  schwarzem  Kleid  und  grauem  Hut.  Das  Bildnis  des  Prinz-Regenten  erscheint 
uns  wie  ein  Gobelin  von  ruhig  dekorativer  Wirkung.  Ganz  besonders  eignet  sich  diese  Malweise 
für  kontrastreiche  farbige  Stimmungen.  Philipp  Klein  ist  ein  Virtuos  darin,  vielfarbige  Stoffe, 
seidene  Kleider,  Lederkoffer  und  Möbel  zu  einem 
Stilleben  von  erlesenen  koloristischen  Reizen  zu- 
sammenzustellen. Sein  Farbenauftrag  erscheint  weich 
und  locker,  die  Modellierung  und  Zeichnung  der 
Gegenstände  aber  doch  bestimmt  und  energisch. 
Ganz  ähnliche  Wirkungen  erreicht  auch  Münzer, 
wenn  er  das  Stoffliche  eines  seidenen  Kleides,  das 
weiche  Fleisch,  die  sammetartige  Weichheit  und 
Glätte  der  Haut  darstellt.  Doch  am  besten  von 
allen  diesen  gelingen  solche  Experimente  Leo  Putz. 
Sein  grosses  Bild  „In  der  Garderobe"  ist  ein  Meister- 
stück der  Ölmalerei.  Seidene  Trikots,  Röcke,  Spitzen, 
Hüte  und  nackte  Arme  bilden  das  malerische 
Motiv.  Aber  von  all  diesem  sieht  man  nur  mehr 
einen  zarten  farbigen  Schimmer,  wie  ihn  die  Stoffe 
im  Lichte   ausstrahlen.     Die  Ölfarbe   ist   völlig  ent-  Kinm,,  Loffhi    Athenerin 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


219 


materialisiert.  Für  diese  ungemein  feinfühlige  Wiedergabe  malerischer  Eindrücke  eignet  sich  die 
Temperafarbe  noch  besser.  Alle  Schwere,  alles  Materielle,  Trockene  und  Harte  wird  aufgelöst,  es 
bleiben  als  ein  letzter  Rest  der  Dinge  nur  mehr  feine  Reize,  ein  farbiger  Hauch  und  Duft  zurück. 
Alles  Körperliche  ist  in  das  Bereich   des  Geistigen    erhoben   zu   einem  Spiegelbild   der  Phantasie. 


Andre  Dcvaiiibez.    Der  Angriff,  Boulevard  Montmartre 

Auch  sein  Bild  „Im  Zaubergarten"  ist  solch  eine  freie  künstlerische  Schöpfung.  Der  malerische 
Ausdruck  für  rein  Gefühlsmässiges  ist  mit  Hilfe  dieser  eminent  geistreichen  Technik  erreicht. 
Nichts  hindert  den  Künstler,  seiner  Empfindung  Abbruch  zu  tun  oder  sie  in  eine  gewisse  Form 
zu  transparieren ;  er  kann  frei  schalten  und  walten  wie  er  will.  Das  Material  in  seiner  dünn- 
flüssigen Konsistenz  erlaubt  ihm,  wie  mit  Wasserfarben  jede  Erscheinung  als  eine  leichte  duftige 
Impression  wiederzugeben.  Auf  einem  ganz  anderen  Wege  wie  Putz  erreicht  Raffael  Schuster- 
Woldan  ein  ähnliches  Ziel.  Von  vornherein  wird  er  nicht  so  direkt  durch  rein  malerische 
Empfindungen  auf  dieses  Ziel  hingeführt.  Er  geht  öfter  von  bestimmten  geistigen  Vorstellungen 
aus,  für  die  er  in  der  Malerei  Ausdruck  sucht  und  findet.  Sein  grosses  Gemälde  „Das  Leben"  lässt 
aber  doch  sofort  erkennen,   dass  es  vom  ersten  Augenblick  an  farbig  gedacht  war.     Nur  ist   das 


220  DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 

Gegenständliche,  ein  liegender  weiblicher  Akt  in  einer  Landschaft,  nicht  bloss  farbige  Impression. 
Es  soll  darin  das  Körperliche,  Plastische  der  Erscheinung,  wie  das  Räumliche  in  der  Landschaft 
zum  Ausdruck  kommen.  Es  ist  ein  durchaus  malerischer  Gedanke,  den  ausgestreckt  liegenden 
nackten  Körper  auf  einem  sammetartigen  Teppich  von  grüner  Farbe  darzustellen.  Das  stumpfe 
Grün  hebt  die  leuchtende  Farbe  des  Fleisches  noch  mehr,  das  warme  Sfumato  kontrastiert  trefflich 
zu  den  kühlen  grauen  und  blauen  Tönen  der  Landschaft.  Es  ergibt  sich  ein  Ausdruck  von  einer 
weichen,  melancholisch  lyrischen  Stimmung,  es  zeigt  sich  aber  auch  darin  eine  ausgeprägte 
künstlerische  Weltanschauung.  Wer  Raffael  Schuster-Woldans  Schaffen  verfolgt  hat,  wird  zwischen 
seinen  verschiedenen  Bildern,  „Auf  freier  Höhe",  „Legende",  „Sonett",  „Das  Leben"  gar  bald 
einen  bestimmten  Zusammenhang  herausfinden.  Sie  sind  alle  das  Produkt  eines  ästhetisch  fein 
empfindenden  Geistes  und  doch  bei  aller  Idealität  voll  künstlerischer  Realität.  Wir  sehen  also 
hier  die  Farbe  als  Mittel  zum  Zweck,  als  ein  Medium,  durch  das  uns  der  Künstler  seine  subjektive 
Weltansicht  übermittelt,  gewissermassen  ein  Geistiges  objektiviert.  Es  liegt  in  diesem  Vorgehen 
ein  bedeutsames  Zeichen  der  Zeit.  Man  könnte  diese  Symptome  als  eine  Abkehr  von  der  blossen 
Wirklichkeit,  als  eine  neue  Romantik  auffassen.  Wir  sehen  gerade  auch  die  schaffenskräftigsten 
Künstler,  starke  Realisten  der  Farbe  wie  z.  B.  Exter,  Stuck  neuerdings  in  Farben  fabulieren  und 
dichten.  In  einem  grossen  mehrfach  abgeteilten  Bilde  behandelt  Exter  frei  nach  Gottfried  Kellers 
Erzählungen  „Tanzlegendchen"  diesen  poetischen  Stoff  auf  seine  Weise. 

Noch  freier  gibt  Philipp  Otto  Schaefer  poetische  Stoffe  und  sucht  dafür  Ausdruck 
im  rhythmisch  bewegten  Spiel  der  Linien  und  Farben.  Die  lineare  Komposition  bildet  gleichsam 
die  Architektur  des  Bildes,  der  zeichnerische  Ausdruck  bestimmt  die  Form  und  die  Farbe  die 
Instrumentierung,  die  Begleitung  zu  der  einmal  angeschlagenen  Melodie.  Schaefer  hat  die  Tonart 
gefunden,  die  zum  Ausdruck  poetisch  gefühlvoller  und  geistig  hochgestimmter  Vorstellungen  passt. 
Seine  Phantasie  ergeht  sich  am  liebsten  in  einer  arkadischen  Welt,  in  der  die  Menschen  im 
innigsten  Zusammenhang  mit  der  Natur  stehen.  Vor  Bildern  wie  „Sonata  pacifica",  „Raub  der 
Europa",  „Kindheit  des  Bacchus"  kommt  uns  Schillers  Dithyrambus  in  den  Sinn:  „Als  ihr  noch 
die  Welt  regiertet,  an  der  Freude  leichtem  Gängelband."  Schaefers  eigenartige  Ausdrucksweise, 
die  gobelinartige  Wirkung  seiner  Bilder  weist  aber  auch  zugleich  auf  ihre  weitere  Bestimmung 
hin,  nämlich  vornehm  ruhige  Räume  zu  schmücken,  den  geniessenden  Sinn  des  Beschauers  zu 
erheitern  und  zu  erfreuen.  Ansätze  zu  einer  Kunst,  wie  sie  schon  einmal  in  der  Renaissance  der 
Welt  geschenkt  wurde,  treffen  wir  in  der  neueren  Zeit,  seit  man  den  Begriff  einer  angewandten 
Kunst  recht  erfasst  hat,  öfter.  Aber  auch  nur  Ansätze,  so  lange  sich  diese  Kunst  darauf 
beschränken  muss,  im  Format  des  Staffeleibildes  Ausdruck  zu  finden.  Unsere  Zeit  gibt  dem 
Künstler  leider  wenig  Gelegenheit,  seine  Ideen  auf  grossen  Wänden  ausbreiten  zu  können.  Die 
Kirche,  einstmals  der  Sammelpunkt  aller  angewandten  Künste,  ist  ganz  in  einer  retrospektiven 
Richtung  befangen.  Sie  verwechselt  den  Begriff  religiöser  Kunst  mit  dem  einer  archaistisch 
dogmatischen  Kunst.  Sie  schliesst  sich  gegen  alles  Neue  ab  und  begnügt  sich  immer  wieder 
damit,  die  verschiedenen  alten  Stilarten   zu  erneuern.     Das  ist  gerade  so,  als  ob  man  schon  einmal 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


221 


getragene  und  abgelegte  Kleider  wieder  verwendete.  Der  Staat  zeigt  sich  vorderhand  auch  wenig 
dazu  geneigt,  öffentliche  Gebäude  von  berufenen  Künstlern  ausmalen  zu  lassen.  Das  augustische 
Zeitalter,  wie  es  einmal  unter  König  Ludwig  I.  in  München  blühte,  ist  vorüber.  Damals  war  der 
Sinn  auf  die  Erneuerung  einer  grossen  Kunst  gerichtet.    Cornelius  und  Wilh.  Kaulbach  kamen  diesem 


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Georg  Pcqyiieritz.    Junge  Mutter  mit  Kind 

Bedürfnis  entgegen.  Leider  waren  diese  Künstler  noch  nicht  im  Besitze  aller  Ausdrucksmittel. 
Das  harte  Wort,  das  König  Ludwig  über  Cornelius  sprach:  „Ein  Maler  muss  malen  können", 
war  in  einem  gewissen  Sinne  berechtigt.  In  der  Vervollkommnung  der  malerischen  Aus- 
drucksweise hätten  wir  es  glücklich  weiter  gebracht,  es  fehlt  nur  wiederum  die  stilbildende 
Kraft,  der  grosse  Ernst  des  Wollens  und  Strebens,  der  einen  Cornelius  beseelte.  Seit 
Jahren  kann  man  in  der  Scholle  Bilder  auftauchen  sehen,  die  über  den  Rahmen  des  Staffelei- 
bildes hinausstreben.  Sowohl  in  der  malerischen  Wiedergabe  als  im  Stoffe  selbst  wird  etwas 
Neues  angestrebt.  Eichler  wie  Erler  brachten  immer  wieder  grosse  dekorative  Schöpfungen, 
nur  wundert  man  sich,  dass  sie  nicht  auf  diesem  Wege  zu  einem  endgültigen  Resultat  gekommen 


222 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


sind.     Es  musste  überraschen,    als  Eichler   im    Vorjahre   mit   einem    neuen    Experimente,   eichene 
Bretter    als    Malgrund    zu    benützen,    hervortrat,    eine    blosse    Spielerei,    die    einem    so    ernsten 


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'  opyrighl  i<a>^  by  hr^nt  llinf«tJi*nct 

Max  Nonneiihnich.    Traumbild 


zukunftsreichen  Talente  gar  nicht  ansteht.  Man  kann  freilich  nicht  verlangen,  dass  sich  die 
Künstler  immer  für  ihre  Ideen  opfern  und  Zeit  und  Kraft  an  grosse  Unternehmungen  wenden,  die 
dann  keine  weitere  Unterstützung  finden.  Hier  könnte  eben  nur  eine  rationelle  Kunstpflege  helfen, 
die  solchen  Talenten  die  richtigen  Aufgaben  zuweist. 


Claus  Meyer  piiix 


CupjrriRht  Itoi  by  Kranz  HanixienKl 


Ein  lieber  Besuch 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


223 


Erler  hat  es  auch  heuer  wieder  unternommen  mit  einem  grösseren  Gemälde  aufzutreten. 
„Fremdlinge"  heisst  er  das  Bild.  Ein  paar  junge  kräftige  Männer  sind  in  einem  Schiffe  über  das 
Meer  gekommen  und  an  einem  fernen  Gestade  mit  wundersamen  pittoresken  Felsen  gelandet. 
Kraftvoll  und  selbstbewusst  stehen  sie  auf  dem  neuen  Boden,  ihre  Ruderstangen  in  Händen.  Hinter 
den  blonden  jungen  Männern  leuchtet  das  blaue  Meer.     Es  ist  ein  eindrucksvolles  Bild  oder  viel- 


HaniiniKl  (i^niie/(f.     Am  Strand  von  üstende 

mehr  doch  nur  ein  Teil  eines  solchen.  Man  denkt  sich  unwillkürlich  die  Fortsetzung  dazu.  Das 
Leben  auf  dem  Schiffe,  die  zukünftigen  Taten  und  Ereignisse  in  dem  neuen  Lande.  Wie  schön 
wäre  es,  die  Räume  eines  Gebäudes  in  der  Nähe  des  Meeres,  z.  B.  in  einer  nordischen  Stadt,  mit 
solchen  Bildern  zu  schmücken !  Hier  in  München  würde  dieser  Stoff  weniger  leicht  aufgegriffen 
und  verstanden  werden.  Da  liegt  uns  Georgis  „Brotzeit"  schon  näher.  Dieses  sommerige  Feld 
zur  Erntezeit,  die  hochbeladenen  Wagen,  die  von  der  Sonne  gebräunten  und  von  der  Hitze 
geröteten  Gesichter  der  Schnitter  und  Schnitterinnen  sind  ohne  Kommentar  jedem  verständlich. 
Nur  haben  wir  es  hier  nicht  mit  einem  dekorativ  gedachten  Wandbilde,  sondern  mit  einem 
malerisch  sehr  reizvollen  Episodenbilde  zu  tun,  das  in  einem  beschränkteren  Format  noch  viel 
intimer  und  reizvoller  zur  Geltung  käme. 

Stuck     gehört    zu    den    Malern,     die     eine     neue    Note    in     unsere     dekorative    Malerei 
bringen  könnten.     Er   hat   ein   ausgesprochenes  Stilgefühl.     Mehr   wie   alle   anderen    weiss  er  mit 

XVI  33 


224 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


beschränkten  Mitteln,  durch  einfache  Flächen- 
wirkungen, raumschmückend  zu  wirken.  Ein 
köstliches  Bild  ist  der  in  ein  Achteck  komponierte 
alte  Faun  mit  dem  frischen  Jungen.  Das  Bild 
ist  als  Wandfüllung  gedacht  und  zeigt  die 
Malerei  in  ihrem  absoluten  dekorativen  Charakter. 
Etwas  anderes  ist  die  Art,  die  Hodler  vertritt. 
Er  versucht  mit  den  einfachsten  Mitteln,  nur 
durch  die  Linie,  zu  wirken.  Die  Farbe  er- 
scheint ganz  flächenhaft,  sie  hat  keinen  Anteil 
an  der  Gestaltung  des  Raumes,  daher  man 
beim  ersten  Anblick  des  Hodlerschen  Kartons 
,, Rückzug  von  Marignan",  insbesondere  beim 
Anblick  der  vielen  gestreiften  Hosen,  Lanzen, 
Schwerter,  an  die  Landsknechte  auf  Spielkarten 
He,,,-,,  d'E^tienne.   Das  erste  Schiff  denkt.    Nun  entdeckt  man  bei  näherem  Zusehen 

allerdings,  dass  es  Hodler  mit  dieser  Art  Gestaltung  seiner  Figuren  vollkommen  Ernst  ist.  Er 
will  bewusst  vereinfachen,  durch  einfache  Linien  und  Farben  den  Totaleindruck  einer  Figur  geben. 
Warum  aber  dieser  fanatische 
Zeichner  die  wirksamsten  Aus- 
drucksmittel, Überschneidungen 
und  Verkürzungen  meidet  und 
sich  mit  den  allereinfachsten 
Flächenwirkungen  begnügt?  Wie 
viel  mehr  könnte  er  durch  eine 
mit  künstlerischen  Mitteln  be- 
wirkte Raumillusion  erreichen! 
Nur  von  einigen  ganz  im  Vorder- 
grund stehenden  Figuren  hat  man 
das  Gefühl  freistehender  Körper, 
die  anderen  runden  sich  nicht,  sie 
wirken  wie  flach  aufeinander  ge- 
klebte Schemen.  Etwas  Sche- 
matisches und  Gezwungenes  haftet 
überhaupt  der  ganzen  Darstellung 
an.  Und  gerade  dieser  Stoff,  die 
Episode  aus  dem  Rückzug  einer 
Schlacht,  verträgt  diese  schemen- 


ÄVi>7  Langhorst.    Die  Kamilie  de«  Künstlers 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


225 


Gilbert  von  Cunal.     Motiv  an  der  Vecht 


hafte  Behandlung  am  wenigsten.  Hier  musste  vielmehr  mit  allen  Mitteln  der  Kunst  das  dramatische 
Leben,  das  doch  in  den  einzelnen  Figuren  zum  Ausdruck  kommt,  auch  im  Ganzen  viel  wirksamer 
gezeigt  werden.  Man  sieht  einen  Haufen  Landsknechte  daherziehen,  ihre  Fahnen  flattern  im  Winde, 
sie  schleppen  Tote  und  Verwundete  mit,  Blut  ist  geflossen,  von  Kampf  und  Streit  soll  dieses  Bild 
erzählen,  ein  tragisches  Geschick  soll  es  in  ergreifenden  Zügen  veranschaulichen.  Und  was  hat  Hodler 
von  all  dem  gegeben?  Nur  stilisierte  Figuren,  wie  nach  einem  bestimmten  Schema  a  oder  b  gearbeitet, 
Figuren,  die  nach  bestimmten  Regeln  agieren,  Stellungen  machen,  Modell  stehen  und  posieren, 
anstatt  ihr  widerwärtiges  tragisches  Geschick  zum  Ausdruck  zu  bringen.  So  ist  es  mit  einer  monu- 
mentalen Kunst  nicht  gemeint!  Was  wäre  Michel  Angelos  jüngstes  Gericht,  wenn  nichts  anderes, 
als  eine  mit  wohlkomponierten  Gestalten  erfüllte  Decke?  Es  kann  dieses  eine  sein,  ein  grosses 
Kunstwerk,  das  ein  gesetzmässiges  Gebilde,  das  seine  Architektur  in  sich  hat,  es  muss  aber  vor 
allem  das  sein  wollen,  was  es  scheint,  Natur  und  Leben  im  Spiegel  der  Kunst.  Wir  haben 
an  dieser  Stelle  nicht  darüber  zu  rechten,  was  es  sein  sollte  und  was  es  sein  könnte.  Das  künst- 
lerische Schaffen  geht,  während  wir  hier  zu  einem  Werke  Randglossen  machen,  ungestört  seinen 
Lauf  weiter  und  vielleicht  ist  Hodler  oder  ein  anderer  schon  wieder  am  Werke,  etwas  ganz 
anderes.  Ungewohntes,  Neues  hervorzubringen. 

Wenden  wir  unsere  Betrachtungen   anderen  Problemen  zu.     In    einer  Reihe   von  Gemälden 
ist  mit  Nachdruck  auf  die  Darstellung  der  Figur   im  Räume  verwiesen,   oder    vielmehr   der  Maler 


226 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


ging  dabei  von  der  räumlichen  Erscheinung  der  Figur  in  einem  entsprechend  farbig  gestimmten 
Räume  aus.  Habermann,  Robert  Weise,  Bios,  Exter,  Papperitz,  alle  beschäftigt  das  gleiche  Problem, 
alle  erstreben  die  gleiche  Lösung,  nur  auf  verschiedenen  Wegen  und  mit  verschiedenen  Mitteln. 
Habermann  stellt  eine  Dame  in  einfacher  grauer  Kleidung  vor  eine  graubraune  Wand  und  erreicht 


trotz     dieser    akzentlosen 

Gegenüberstellung  eine 
gewisse  Wirkung.  Exter 
geht  wieder  stark  in  die 
Farbe.  Sein  Selbstporträt 
zeigt  den  Künstler  im 
grünen  Rock  vor  einem  kar- 
mesinroten Vorhang  und 
einem  dahinter  liegenden 
Arbeitsraum  mit  diffusem, 
rötlich  gefärbtem  Licht. 
Bios  stellt  den  Fürsten 
Quadt  in  ganzer  Figur 
dar.  Er  überwindet  die 
Schwierigkeit,  eine  hell- 
blaue Uniform  mit  blitz- 
enden silbernen  Abzeichen, 
Orden  und  Waffen,  zu  einer 
einheitlich  gestimmten  Er- 
scheinung zusammenzu- 
fassen. Er  vermag  sogar 
noch  mehr,  er  stimmtauch 
die  entsprechende  Um- 
gebung dazu  und  schafft 
ein  vornehmes  Repräsen- 
tationsbildnis,   das  jedem 


Patil  Iiittiiiitcitrii.    Bildnis  der  Frau  von  Mierka 


Räume  zur  Zierde  ge- 
reichen würde.  Papperitz 
stellt  uns  eine  elegante 
Dame  in  ganzer  Figur 
geschickt  vor  Augen. 
Sehr  sorgfältig  und  doch 
malerisch  wirksam  ist  die 
elegante  Kleidung  der 
Dame  durchgeführt,  ein 
wesentliches  Moment  für 
die  ganze  Art  dieser  Re- 
präsentation. Ein  jüngerer 
Künstler,  Adolf  Heller,  be- 
schäftigt sich  gerade  mit 
diesem  malerischen  Pro- 
blem sehr  eingehend.  In 
mehreren  Bildnissen  zeigt 
er  einen  sehr  feinen  Ge- 
schmack, seidene  apart 
gefärbte  Stoffe,  Kleider- 
tuch, feine  Handschuheetc. 
zu  reizvollen  malerischen 
Harmonien  zu  vereinigen. 
Keine  leichte  Aufgabe  stellt 
sich  Langhorst  in  dem 
Porträt  seiner  Familie,  in- 


dem er  auf  einem  möglichst  gedrängten  Räume  vier  Personen,  alle  lebendig,  ausdrucksvoll,  in 
Beziehung  zu  einander  zu  setzen  weiss.  Auf  jeden  Fall  ein  sehr  beachtenswertes  Bestreben,  die 
Monotonie  eines  Gruppenhildes  zu  überwinden.  Auch  Geffcken  ist  bei  seinem  Gruppenbildnis  von 
vier  Herren  ganz  ähnlich  verfahren.  Scholz  bringt  eine  neue  Note  in  sein  Bildnis  zweier  Kinder 
dadurch,  dass  er  sie  in  kleidsame  Kostüme  steckt  und  in  eine  hübsche  Landschaft  stellt.  Kinder 
im  Freien,  ein  sehr  ansprechendes  Motiv !  Ein  Porträtmaler  sollte  überhaupt  Kinder  nur  im 
vertrauten  Umgang  mit  ihren  Haustieren  und  mit  ihrem  Spielzeug  beobachten,  da  würde  er  eine 
Menge   drolliger,    sinniger,    lebensvoller  Züge    aufgreifen    können.     Georg   Schuster-Woldan,    mit 


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Otlo  Hiurl-Ucronco  piiix. 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


227 


feinen  Emplindungen  für  das  kindliche  Wesen  und  den  kindlichen  Charakter  begabt,  hat  dieses 
Moment  in  vielen  poetisch  gestimmten  Bildern  zum  Ausdruck  gebracht.  In  seinem  Mädchen- 
bildnis ist  das  Anmutige  und  Liebenswürdige  einer  kindlichen  Erscheinung  herausgearbeitet  und 
mit   allem  Zauber   malerischer  Stimmung    umgeben. 

Ein  wiederum  auf  vornehme  Repräsentation  gestimmtes  Bildnis  stellt  uns  Raffael  Schuster- 
Woldan  in  dem  Porträt  der  Frau  Friede- 
berg in  Berlin  vor.  Hier  soll  vor  allem  die 
Persönlichkeit  mit  ihrer  Eigenart  in  ihrem 
ganz  individuellen  Ausdruck  sprechen. 
Die  schöne  geistvolle  Frau  ist  hier  dar- 
gestellt, geschmückt  mit  all  dem,  was 
einer  Frau  gefällt.  Gelingt  es  einem  Maler, 
eine  schöne  Erscheinung  in  ein  richtiges 
Licht  zu  stellen  und  alle  Momente  zu 
einem  einzigen  sichtbaren  Ausdruck  zu 
vereinigen,  so  gibt  uns  ein  solches  Bildnis 
etwas,  worin  sich  sozusagen  die  Gattung 
selbst  repräsentiert.  Es  liegt  zwar  nicht 
im  Wesen  des  Bildnismalens,  solche 
Wirkungen  als  Regel  anzustreben,  wie 
es  nicht  in  der  Absicht  der  Natur  liegt, 
in  jedem  Individuum  eine  bestimmte 
Gattung  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Das 
Bildnis  soll  die  Natur,  das  besonders 
ins  Auge  gefasste  Objekt  getreu  dar- 
stellen. Die  Bildniskunst  soll  im  all- 
gemeinen nichts  weiter  sein,  als  ein 
scharfgeschliffener  Spiegel,  der  die  Züge 
jedes  Einzelnen  naturwahr  wiedergibt. 
Ungeachtet    dessen    lässt    sich    aber    die 

Kunst  doch  nicht  beschränken,  sie  ist  das  Bereich  der  unbegrenzten  Möglichkeiten.  Dafür 
spricht  schon  das  Vorhandensein  zweier  Meister  wie  z.  B.  Holbein  und  Leonardo  da  Vinci. 
Zwischen  einem  Holbeinschen  Porträt  und  der  Mona  Lisa  von  Leonardo  liegen  unendlich  viele 
Zwischenstufen. 

Fritz  August  von  Kaulbach,  der  Maler  schöner  Frauen  und  hübscher  Kinder,  füllt  auch 
heuer  wieder  einen  eigenen  Raum  mit  Bildnissen.  Das  Kaulbach-Kabinett  bildet  entschieden  einen 
Glanzpunkt  der  Ausstellung,  da  wir  hier  in  aller  Ruhe  das  Schaffen  und  die  Werke  eines  Einzelnen 
geniessen  können.  Kaulbach  erweist  sich  als  ein  äusserst  geschmackvoller,  an  einer  alten  künstlerischen 


lüliianl  Vfi/Ii.     Bildnis  der  Baronesse  M. 


Franz  (iräsKvl.     linteii 


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V      V 


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P.  S.  Krmjer.    Weinlese  in  Tirol 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


229 


ädoiiard  Detaille.    Kavallerie-Rekognoszierung 


Kultur  gebildeter  Künstler.  Es  genügt  ihm  nicht,  seine  Modelle  einfach  vor  den  Beschauer  hin- 
zustellen, sondern  er  macht  aus  jedem  Porträt  ein  dekorativ  wirkungsvolles  Bild.  Wir  erkennen 
in  seiner  Anordnung  sofort  den  Maler.  Wie  reizvoll  weiss  Kaulbach  zu  arrangieren.  Man  darf 
nur  das  Gemälde  mit  den  drei  Kindern,  die  von  einem  Kranz  reifer  Früchte  umgeben  sind, 
betrachten  oder  das  mit  dem  kleinen  Jungen  und  dem  Hündchen  zur  Seite.  Die  Bildwirkung 
wird  noch  gesteigert  durch  den  Rahmen  von  Reblaub,  der  dieses  hübsche  Bild  umschliesst  und 
auf  einen  weiteren  Raum,  auf  eine  in  neutralen  Tönen  gehaltene  Landschaft  hinweist.  Doch 
ist  dieser  Ausblick  so  gegeben,  dass  das  Auge  nicht  davon  festgehalten  wird,  sondern  von  selbst 
immer  wieder  auf  das  hübsche  Gesicht,  die  klugen  leuchtenden  Augen  des  Jungen  zurückkehrt. 
Kaulbach  verfügt  über  einen  reichen  Apparat  von  malerischen  Ausdrucksmitteln,  den  er  klug  zu 
verwenden  weiss  und  mit  dem  er  die  mannigfachsten  Situationen  hervorzaubert.  Wo  jedoch  die 
Natur  durch  ein  besonders  hübsches  und  anmutiges  Gesicht  oder  durch  den  Ausdruck  herzlicher 
menschlicher  Empfindung  spricht,  wie  z.  B.  in  dem  Bilde  Mutter  und  Kind,  da  bedarf  es  keines 
besonderen  Aufwandes,  es  genügt  all  die  Wärme  und  das  Leben,  das  sich  in  solchen  Erscheinungen 
offenbart,  in  Farben  und  Formen  festzuhalten. 

In  der  ausländischen  Abteilung  muss  man  die  guten  Porträts  suchen.     Die  eleganten  Pariser 
Bildnismaler  fehlen.     Etwas  besser  sieht  es  in  dem  englischen  Saale  aus.     Nachträglich  kam  noch 


230 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


ein  echter  Lavery  zu  uns,  ein  pikantes 
mit  viel  Raffinement  gemaltes  Bildnis  einer 
jungen  Dame.  Sie  sitzt  in  vornehmer 
Haltung  auf  einem  Stuhle  aus  der  Empire- 
zeit. Die  rosafarbene  Robe  aus  glänzender 
Seide  füllt  den  Vordergrund  gleich  einem 
prächtigen  Bukett  von  aufgeblühten  Rosen. 
Das  farbige  Arrangement  des  Kostüms 
stimmt  trefflich  zu  dem  mattweissen  Teint 
und  den  blonden  Haaren.  Der  Hinter- 
grund ist  in  neutraler  brauner  Farbe  ge- 
halten. Die  glänzende  Erscheinung  der 
Dame  hebt  sich  davon  ab  wie  ein  kost- 
bares Schmuckstück  in  einer  unschein- 
baren Umgebung.  Auch  ein  anderes  Bild- 
nis, von  Austen  Brown,  ist  sehr  fein  in 
CK  ih.isür.    Interieur  ggi^gr  geschmackvollen    Einfachheit.      Am 

nächsten  kommen  diesen  englischen  Malern    die  Wiener  Angel!    und  loanowitch.     Wenn  wir 
sagen  am  nächsten,  so   ist   dabei  immer   noch   an   einen 
ziemlichen  Abstand  zwischen  Wienern  und  Engländern  zu 
denken. 

Von  dem  Dänen  Paulsen  ist  ein  Bild  „Interieur 
mit  Figuren"  auf  der  Ausstellung.  Man  sieht  durch  den 
Rahmen  des  Bildes  wie  durch  eine  offene  Türe  in  einen 
behaglich  anmutenden  Raum  auf  eine  gemütliche  Gesell- 
schaft, die  die  Abendstunde  beim  Lampenlichte  vereinigt. 
Wir  bewundern  die  ausdrucksvollen,  von  mildem  Licht- 
schein übergossenen  Gesichter,  in  denen  sich  soviel  indi- 
viduelles Leben  ausprägt.  Das  ist  gute  Bildnismalerei, 
intim  und  doch  scharf  beobachtetes  Leben  mit  indi- 
viduellem Ausdruck. 

Bei  der  Betrachtung  der  Landschaftsbilder  auf  unserer 
internationalen  Ausstellung  müssen  wir  wieder  zuerst  bei 
den  Holländern  anfangen.  Holland  ist  in  der  Kunst  das 
konservativste  Land.  Freilich  erwächst  den  Neuholländern 
daraus  leicht  ein  Vorwurf.  Man  sagt,  sie  bringen  immer 
das  Gleiche.  Die  Ruhe  und  Abgeklärtheit  in  ihren  Bildern 
gilt  als  Ausstrahlung  ihres  phlegmatischen  Temperaments.  MiuikI  Hriiin»<i,>  \i,,i,,,i    Andaiusicrin 


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231 


Und  doch  ist  in  diesem  Streben  viel  Gutes.  Wir  bedürfen  gerade  dieser  Ruhe  und  Aus- 
geglichenheit. Die  Landschaftsmalerei  muss  vor  allem  darnach  trachten,  einfach  und  feiner 
im  Ausdruck  zu  werden.  Es  erging  uns  seltsam,  als  wir  mitten  in  der  Ausstellungszeit  einmal 
die  Galerie  alter  Meister  besuchten.  Ahnlich  wie  im  Glaspalast  hängt  an  den  Wänden  Bild 
an  Bild.  Die  ungeheuere  Verschiedenartigkeit  im  Stoff  und  im  künstlerischen  Ausdruck  fällt 
gar  nicht  auf.  Es  ist  so  vieles  nebeneinander,  ohne  dass  eines  das  andere  beeinträchtigt. 
Das  Gute,  Reife  und  Abgeklärte  verträgt  sich.  Können  wir  dasselbe  von  unseren  Ausstellungen 
sagen?  Mit  nichten.  Man  muss  das  Gute  suchen,  es  mit  den  Augen  gleichsam  herausschälen 
aus  dem  Wüste  einer  kunterbunten  Mannigfaltigkeit.  Daher  bei  vielen  Malern  die  Neigung  zur 
Übertreibung  dekorativer  Wirkungen,  ein  Streben,  das  die  Ausstellungen  entschieden  begünstigen. 
Selbst  die  Holländer  neigen  ein  wenig  dazu.  Zwar  bewirkt  das  Beispiel  eines  Israels,  die  angenehme 
Zurückhaltung  und  der  feine  Takt,  den  er  in  all  seinen  Schöpfungen  bekundet,  dass  auch  die 
anderen  sich  nicht  zu  auffällig  hervortun.  Und  um  dieser  ruhigen  Gesamthaltung  willen  ist  der 
Eindruck  eben  so  angenehm.  Sie  fallen  einem  nicht  auf  die  Nerven  und  stören  nicht.  Sie  wirken 
wie  ein  kleines  Orchester  mit  Geigen,  Flöten  und  Klarinetten.    Ruhig  spielen  sie  ihre  alten  Weisen, 


Alhert  Ritxheiijvr.     Im  kühlen  Grunde 


XVI  34 


232 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


mag  auch  der  Nachbar  nebenan  noch  so  laut  die  Trommel  rühren  und  die  Pauke  schlagen. 
Aber  trotz  alledem  können  sie  doch  nicht  aus  ihrer  Haut,  sie  sind  eben  auch  Menschen  des 
20,  Jahrhunderts,  Künstler  ihrer  Zeit,  und  das  will  heissen,  einige  sind  doch  schon  ein  wenig 
angekränkelt  von  dem  Streben    nach    dekorativen    auffälligen  Wirkungen.     In  der  modernen  Land- 


Edmiind  iMutiot.    Beim  Fischverkauf 


Schaftsmalerei  macht  sich  dieses  Bestreben  oft  recht  empfindlich  bemerkbar.  Und  gerade  hier 
sollte  es  sich  gar  nicht  so  stark  hervordrängen.  Gerade  die  Landschaft  soll  harmonisch,  aus- 
geglichen, beruhigend  auf  uns  wirken.  Diese  Beruhigung,  die  von  einem  Bilde  ausgehen,  die 
zum  Beschauen  und  Betrachten  einladen  soll,  fehlt  den  meisten  modernen  Bildern.  Unsere  Luft- 
und  Lichtmaler,  so  wesensverwandt  sie  ihren  alten  Vorfahren,  einem  van  Goyen,  Aelbert 
Cuyp  u.  a.,  scheinen,  sie  vermögen  doch  nie  die  eigentliche  Naturstimmung,  die  Seele  der  Land- 
schaft vor  uns  hinzuzaubern.  Bei  meinem  Gang  durch  die  Galerie  lud  mich  ein  Bildchen  von 
Cuyp  ein,  etwas  länger  zu  verweilen.  Es  stellte  eine  Landschaft  dar,  einen  Ausblick  in  sonnige 
Weiten.     Alles  schwimmt  förmlich  in  einem  feinen  flüssigen  Goldton,  dessen  Wärme  und  Leucht- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


233 


kraft  durch  den  schattigen,  in 
kühlen  Tönen  gehaltenen  Vorder- 
grund noch  mehr  hervorgehoben 
wird.  Direkt  starke  und  bunte 
Farben  gibt  es  auf  dem  ganzen 
Bildchen  nicht,  sondern  nur  feine, 
zarte,  durchschimmernde  Töne 
von  einem  wunderbaren  farbigen 
Ausdruck.  Es  ist  Holland,  das 
uns  die  Ruisdael,  van  Goyen 
und  Cuyp  darstellen.  Es  ist  der 
Stimmungszauber,  die  Poesie 
der  holländischen  Landschaft,  die 
uns  in  den  einfachsten  Motiven, 
einem  unscheinbaren  Fleckchen 
Erde,  einem  Bretterzaun,  einem 
Teich   mit   nahen  Ufern  und  im 

Grünen   versteckten   Häusern, 
einem    Kanal,    einem    Ausblick 
auf   ferne  Gegenden   so  fühlbar 
entgegentritt.     Dagegen    fällt  es 
auf,  wie  wenig   auf  den  Bildern 


Adolf  Ebcrlc.    Jagdeifer 


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der  jetzigen  Holländer  jener 
Stimmungsgehalt  der  Landschaft 
zu  einem  gleich  originellen  und 
eigenartigen  Ausdruck  kommt. 
Ausgenommen  Israels,  der  seine 
Bilder  zu  einer  wundersamen  Ein- 
heitlichkeit in  Ton  und  Farbe 
stimmt  und  zugleich  eine  tiefe 
poetische  Wirkung  erzielt.  Die 
Modernen  halten  sich  wohl  in 
ihren  Motiven  an  ihre  nächste 
Umgebung,  aber  sie  wissen  doch 
nicht  den  eigenartigen  Zauber 
dieser  Natur  voll  zu  erfassen. 
Sie  sehen  immer  noch  durch  zu 
viele  Brillen.  Brüssel  liegt  zu  nahe 


234 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


beim  Haag,  Brüssel  und  Paris  hängen  wiederum  zu  sehr  zusammen,  als  dass  darin  eine  Eigenart 
zu  volikommner  Entwicklung  gelangte.  Man  kann  nicht  originell  und  selbständig  empfinden, 
ohne  auch  im  Ausdruck  originell  und  eigenartig  zu  sein.  Wie  gut  wären  die  holländischen  Maler 
daran,  wenn  sie  sich  Scheuklappen  umziehen  könnten,  so  oft  sie  Reisen  unternehmen,  oder  wenn 
sie  ruhig  in  irgend  einem  stillen  Winkel  ihres  Landes  sitzen  blieben  und  in  ihrer  Natur  das  auf- 
suchen  würden,   was   die  Anschauung  und  die  Phantasie   ihrer  Vorfahren  beständig  angeregt  und 


/'(////  Me!)trheim.     Löwenpaar 

befruchtet  hat.     Statt  dessen  gibt  es  auch  hier  viele,    die  in  Paris   oder   in  Brüssel  studieren  und 
weiss  Gott  wo   überall    herumziehen,    um    die  neuen  Moden  mitzumachen. 

Der  Impressionismus,  der  eingestandenermassen  die  Malerei  in  ähnliche  Bahnen  leitete,  wie 
sie  die  alten  Meister  wandelten,  hat  vielfach  das  nicht  gefördert,  was  in  der  Kunst  das  Erste  und 
Wichtigste  ist,  die  eigentliche  Ausdrucksbeziehung  zwischen  Künstler  und  Natur.  Nicht  um  ein 
Einsammeln  von  Eindrücken  handelt  es  sich  bei  der  Malerei,  nicht  um  mehr  oder  weniger  getreue 
Aufzeichnungen  von  flüchtigen  Wahrnehmungen,  das  alles  könnte  schliesslich  auf  rein  mechanischem 
optischem  Wege  auch  zustande  kommen.  Wir  haben  doch  im  Kinematographen  bereits  ein  Instrument, 
das  uns  die  flüchtigsten  Wahrnehmungen  ganz  getreu  übermittelt.  Will  ein  Maler  nichts  weiter  als 
darstellen,  wie  ein  Biergarten  um  1 1  Uhr  Mittags  oder  um  -^j^b  Uhr  Abends  aussieht,  so  genügt  eine 
Impression  und  derjenige  Beschauer,  der  sich  für  den  Tatbestand  interessiert,  mag  sich  damit 
zufrieden  geben.  Aber  man  behaupte  doch  nicht,  in  der  Lösung  solcher  Aufgaben  bestünde  der 
einzig  erstrebenswerte  Zweck  der  Malerei.  Und  schliesslich,  was  vermag  der  Maler,  der  mit  dem 
farbigen  Momentbilde  der  Natur  wetteifert,  gegen  die  Unmittelbarkeit  und  Schlagkraft  dieser  Wirkungen. 


DIE  KUNST  UNSERER   ZEIT 


23b 


George  Heiiiliik  Jitfitiur.     Strasscnaiilage  in  Amsturdain 


Das   stärkste  Rot,    das   reinste   Gelb 
pracht     der    Natur. 

Es   bleibt    immer 
nur     ein      relativer 
Ausdruck    des    Ge- 
schauten.    Je  mehr 

starke  leuchtende 
Farben  auf  einem 
Bilde,  desto  schwie- 
riger ist  die  Einheit 
und  Konzentration 
der  Stimmung  zu 
erreichen.    Es  zeigt 

sich ,     dass     eine 
direkte  Wiedergabe 
der  Eindrücke,  eine 


oder  Blau   wirkt   stumpf    und   schmutzig   gegen    die  Farben- 
Addition  von  blossen 

Wahrnehmungen 
auf  einer  Fläche,  ent- 
weder in  Punkten, 
Strichen  oder  Farb- 
flecken nebenein- 
andergesetzt, immer 
noch  kein  Bild  aus- 
machen, sondern 
dass  eine  gewisse 
Metamorphose,  eine 
im       künstlerischen 

Bewusstsein  voll- 
zogene Verarbeitung 
und  Zubereitung  der 

XVI  35 


Cot>jrrigl)t  i9«»5  l»jf  Fi  ■ 


Alice  Leotard.    Trio 


236 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Eindrücke  für  eine  bewusste  bildmässige  Wirkung  unerlässlich  ist.  Die  eigentlichen  Meister  des 
Impressionismus  haben  das  auch  keinen  Augenblick  vergessen  und  es  gibt  mehr  als  ein  Moment- 
bild, das  vorzüglich  komponiert  ist. 

Der  Impressionismus,    als  Ausdruck    rein    malerischer  Wirkungen,    hat   viel  Gutes  gezeitigt, 
aber   er   hat   auch   die  Begriffe   verwirrt   und    vielfach    die  Meinung   erweckt,    als   wäre   es  in  der 


FilijijKi  Fraiuoni.     Lödano,  Abend  (Tess'mer  Dorf) 

Kunst  damit  getan,  mit  einer  gewissen  technischen  Geschicklichkeit  ausgerüstet,  das  Nächstbeste 
darzustellen,  was  sich  dem  Auge  darbietet.  Wir  müssen  wieder  darauf  sehen,  die  eigentlichsten 
Probleme  der  Kunst  mehr  zu  betonen  und  dahin  zu  streben,  wo  der  Mensch  mit  der  ihn  um- 
gebenden Natur  ganz  bei  sich  zu  Hause  ist,  wo  der  künstlerische  Sinn  des  Menschen  sein  höchstes 
Genügen  darin  findet,  zu  einer  immer  vertiefteren,  klareren  Anschauung  der  ihn  umgebenden  Welt 
durchzudringen.  Nicht  in  der  Wiedergabe  von  Eindrücken  und  immer  wieder  nur  Eindrücken, 
sondern  im  Ausdrucke  der  klar  und  deutlich  geschauten  und  durchfühlten  Natur  soll  die  moderne 
Kunst  ihr  nächstes  Ziel  sehen.  Nicht  immer  Impressionismus,  sondern  Expressionismus  sei  ihr 
nächstes  Ziel!  Warum  wir  diese  Betrachtungen  gerade  bei  den  Holländern  anknüpften,  hat  seinen 
besonderen  Grund  darin,  dass  uns  hier  gewisse  Elemente  und  Erscheinungen  geradezu  darauf 
verweisen,  dass  hier  noch  ein  gewisser  Zusammenhang  mit  alten  Traditionen  besteht  und  Neigung 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


237 


und  Fähigkeiten  vorhanden  sind,  die  Natur  dieses  Landes  im  Sinne  der  Früheren  wieder  intim 
und  poetisch  zu  schildern.  Noch  mehr  als  den  Holländern  würde  es  den  Deutschen  fruchten, 
wenn  sie  sich  auf  sich  selbst  besinnen  und  ihre  Eigenart  besser  ausbilden  wollten.  Denn  kein 
anderes  Land  ist  von  der  Natur  mehr  bedacht  worden,  keines  hat  diese  Fülle  und  Mannigfaltigkeit 
an  landschaftlichen  Eigentümlichkeiten  und  Reizen,  als  gerade  Deutschland.    Bei  der  Besprechung 


Flitz  Baer.     Abend  im  Herbst  (Schloss  Blutenburg) 


deutscher  Landschaften  werden  wir  auf  diesen  Punkt  zurückkommen.  Wir  müssen  zuerst  noch 
einen  kurzen  Überblick  über  die  Landschaftsmalerei  in  der  internationalen  Abteilung  geben.  Unter 
den  belgischen  Landschaften  suchen  wir  vergebens  nach  Darstellungen  von  eigenartigem  boden- 
ständigem Charakter.  Das  moderne  Belgien  ist  das  Land  der  Industrie,  des  Maschinen-  und  Berg- 
baues, deshalb  hat  hier  die  Landschaft  keinen  sehr  grossen  Raum,  die  Kunst  gibt  zumeist 
Schilderungen  des  sozialen  Lebens.  Der  Name  Meunier  sagt  alles.  Man  kennt  auch  die  Bilder, 
die  die  Nachtseiten  des  sozialen  Lebens  mit  abschreckender  Deutlichkeit  schildern.  Sie  wirken 
wie  Illustrationen  zu  einer  Erzählung  von  Zolas  Germinal.  Die  Schilderung  der  Landschaft  steht 
ganz  unter  dem  Einflüsse  der  naturalistischen  Prinzipien.  Wir  sehen  nur  Naturausschnitte:  ein 
Stück    von    einem  Hafen    mit  Schiffen,    ein  Getreidefeld    bei    aufgehender  Sonne,   einen  blühenden 


238 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Arnold  Marc  Gorter.     Heideweg 


Apfelbaum  in  der  Mittagssonne, 
ein  Feld  bei  Nebeistimmung  — 
immer  die  alten  Motive  nach 
dem  Rezept  von  Claude  Monet 
und  van  Goy  gemalt.  Diese 
Landschaften  könnten  sämtlich 
aus  irgend  einem  Winkel  und 
aus  einem  beliebigen  Lande 
stammen,  sie  tragen  ein  voll- 
ständig internationales  Gepräge. 
Wir  empfangen  sofort  andere 
Eindrücke,  wenn  wir  uns  den 
Engländern  zuwenden.  Durch 
alle  diese  Bilder,  auch  wenn  sie 
gerade  keine  Auslese  englischer 
Malerei  darbieten,  geht  doch  ein 
einheitlicher  Zug.  Die  Engländer  lieben  in  der  Darstellung  der  Landschaft  das  Ruhige  und 
Abgeklärte.  Sie  sind  bereits  so  weit,  alles  Problematische,  Experimentelle  in  der  Kunst  auf  das 
Atelier  zu  beschränken.  Daher  finden  blosse  Studien  keinen  Eingang  ins  Haus.  Ein  Bild  ist 
ihnen  ein  Stück  Umgebung,  ein  Teil  des  Zimmers;  es  darf  nicht  aus  dieser  Umgebung  heraus- 
fallen. Daher  sehen  wir  das  fast  ängstliche  Bestreben,  den  Gesamteindruck  auf  einen  möglichst 
ruhigen  gobelinartigen  Ton  abzustimmen. 

Es  sind  ein  paar  schöne  Landschaften  von  Wal  ton  und  Priestmann  auf  der  Ausstellung. 

Auf  dem  Bilde  von  Walton  sieht 
man  ins  Grüne,  auf  einen  idyl- 
lischen Fleck  Erde.  Um  die  Wipfel 
der  Bäume  legt  sich  die  Luft, 
weich  und  flockig,  wie  man  es 
zuweilen  im  Frühjahr  beobachtet. 
Ein  Bach  durchzieht  die  Wiese, 
und  das  Wasser  spiegelt  des 
Himmels  Bläue  wieder.  Priest- 
mann zeigt  uns  einen  Fluss,  der 
breit  zwischen  sattgrünen  Wiesen 
und  einem  Wäldchen  dahinzieht. 
Ein  Reiter  auf  einem  Schimmel 
ist  an  einem  Ufer  sichtbar,  Kühe 
Emma  Ciardi.   Die  Sänfte  Weiden   im    Grünen.      Man    kann 


Fritz  AuKiist  von  Kaulbach  piiix. 


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DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


239 


die  Reize  des  Landlebens,  die  Stimmung  einer  reichen  und  üppigen  Natur  nicht  besser  schildern. 
Im  Stimmungsausdruck  dieser  englischen  Landschaften  liegt  etwas  Eigenes,  etwas  spezifisch 
Englisches. 

Unter  den  nordischen  Völkern,  die  vor  Jahren  hier  zum  erstenmal  so  glänzend  hervortraten, 


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\\'//li('/iii  l.iiwith.     Neiiij^kciteii 


sind  höchstens  unter  den  Schweden  einige  Landschafter  bemerkenswert.  Sie  zeigen  im  allgemeinen 
noch  dieselbe  Neigung  für  starke  dekorative  Farben.  Ihre  Spezialität  ist  Schnee  zu  malen,  Schnee, 
wie  es  ihn  eben  nur  in  den  nordischen  Gegenden  gibt.  Zu  dem  bläulich  oder  rötlich  schimmernden 
Schnee  stimmt  dann  die  eigentümlich  gefärbte,  eisigklare  Luft  sehr  gut.  Hedberg  ist  ein  solcher 
Spezialist  in  Winter-Landschaften.  Kallstenius  versteht  es  trefflich,  atmosphärische  Stimmungen 
darzustellen.  Abends,  morgens,  mittags,  zu  allen  Tageszeiten  beobachtet  er  die  Luft  und  prägt 
sich  ihre  charakteristischen  Färbungen  und  Wolkenbildungen  ein.  Seine  Bilder  wirken  darum 
ungemein  überzeugend,  sie  haben  eine  gewisse  Naturnähe. 


240 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


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Heinrich  Schutt.    Gnomen 


Bei  der  Betrachtung  der  deutschen 
Landschaftsmalerei  fällt  sofort  eines  auf: 
deutsche  Landschaft  und  deutsche  Romantik, 
das  sind  fast  zwei  unzertrennliche  Begriffe 
geworden.  Die  Romantiker  sind  es  zuerst 
gewesen,  die  in  ihrem  Suchen  nach  der 
blauen  Wunderblume  der  Kunst  in  das 
Dickicht  und  Dornengestrüpp  des  deutschen 
Waldes  eindrangen.  Schwind  hat  da  all 
seine  köstlichen  Einfälle  und  lichten  Träume 
erlebt.  Die  Landschafter  haben  uns  erst 
die  Wirklichkeit  erschlossen,  sie  haben  die 
eigenartige  Schönheit  mancher  Landstriche 
entdeckt.  Sie  sind  es,  die  uns  die  farbige 
Herrlichkeit  der  Moore,  unserer  Berge  und 
Täler,  Flüsse  und  Seen,  Ebenen  und  Hügel- 
gelände, die  zauberischen  Reize  der  atmo- 
sphärischen Erscheinungen  wiesen.  Und  je  nach  der  Entwicklung  der  künstlerischen  Probleme 
wechselte  auch  der  Schauplatz  der  Landschaft.  Eine  Zeitlang,  als  noch  die  zeichnerische  Richtung 
in  der  Landschaftsmalerei  vorherrschte,  suchten  die  Maler  mit  Vorliebe  die  Berge  auf.  Das  felsige 
Gestein    mit   seinen    mannigfachen  Bildungen    und  Formen    bot  vorzügliche  Motive.     Heute   sehen 

wir  bei  einer  gewissen  Vor- 
liebe für  die  Gebirgswelt  neben 
der  zeichnerischen  Behandlung 
auch  die  Farbe  starken  An- 
teil nehmen.  Man  könnte  sich 
wohl  keine  grösseren  Gegen- 
sätze denken  als  die  Werke 
des  jüngst  verstorbenen  Malers 
S  t  e  f  f  a  n  —  einer  der  besten  Ver- 
treter der  älteren  Generation  — 
und  die  Bilder  des  in  vollster 
Schaffenskraft  stehenden  Kolo- 
risten    Baer.      Bei    Steffan    die 

sorgfältige  Beobachtung   alles 
Sichtbaren,    die   aufmerksamste 
zeichnerische     Behandlung    des 
Hau«  cm  Peicmeii.   Das  Wrack  Details,  jedes  Gemälde  ein  ge- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


241 


treues  Spiegelbild  der  Natur.  Bei  Baer  zeigt  sich  alles  nur  in  farbigen  Massen,  in  der  malerischen 
Erscheinung,  worin  oft  alles  Detail  und  alle  Form  aufgelöst  wird.  Mit  leidenschaftlicher  Konsequenz 
unterwirft  er  jedes  Motiv  seiner  koloristisch  gestimmten  Empfindung.  Eine  ganz  bestimmte  Ansicht 
eines  Berges,  gleichsam  ein  charakteristisches  Bild  seiner   eigenartigen  Formen,    zugleich    im  Zu- 


Umiiaiiii  üibaii.     Römischer  Herbst 


sammenhange  mit  der  ganzen  landschaftlichen  Situation,  gibt  Strützel  in  seiner  „Benedikten- 
wand". Sie  erscheint  uns  in  ihrem  anmutigsten  farbigen  Gewände  mit  einer  herrlichen  Aussicht  auf 
die  ganze  Umgebung  bis  weit  in  die  blaue  dunstige  Ferne.  Auf  dem  Bilde  „Morgendämmerung" 
von  Schmitzberg  er  interessiert  weniger  das  Bergland  selbst,  dieses  bildet  sozusagen  nur  die 
stimmungsvolle  Folie  zu  einem  Intermezzo  zweier  balzender  Auerhähne. 

Der  Wald  tritt  uns  in  der  gegenwärtigen,  malerischen  Problemen  zugewandten  Zeit  nur  als 
farbige  Erscheinung  entgegen.  Wenn  auch  nicht  alle  Maler  so  weit  gehen  wie  Trübner,  dem  es 
in  erster  Linie  nur  um  die  grüne  Farbe  zu  tun  ist  und  dessen  Auge  sich  an  grünen  Tönen  uner- 
sättlich weidet,  so  packen  doch  die  meisten  das  Motiv  Wald  von  der  koloristischen  Seite  an.    Und 


242 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


der  Wald  ist  ergiebig  genug;  er  nährt 
viele  Maler  und  bietet  ihnen  kräftige  Kost. 
Ehemals,  in  der  zeichnerischen  Periode 
der  Landschaftsmalerei,  konnte  man  von 
manchen  Bildern  sagen,  man  sehe  vor 
lauter  Bäumen  den  Wald  nicht,  jetzt  ist 
es  umgekehrt,  die  Maler  kommen  vor 
lauter  Waldesstimmung  nicht  dazu,  die 
Bäume  zu  malen.  Und  jeder  Baum  ist 
doch  gewissermassen  eine  Individualität. 
Nicht  nur  der  Baum,  sondern  auch  die 
Bäume  haben  ihren  bestimmten  Charakter: 
Eichen,  Buchen,  Tannen,  Birken,  jeder 
ist  anders.  Nicht  bloss  in  dem  einzelnen 
Blatt  prägen  sich  gewisse  Unterschiede 
aus,  auch  die  ganze  Masse  von  Blättern, 
Ästen,  Zweigen  zeigt  diesen  Charakter, 
so  dass  man  auch  aus  der  Gesamt- 
erscheinung der  Bäume  erkennen  kann, 
von  welcher  Art   dieses  Holz    und  dieser 


Joseph  Schmitzberyfr.     Morgendämmerung 


I laston  Im  Touche.    Nachtfest 


Wald  ist.  Schon  die  blosse  Silhouette  dunkler 
Baummassen  lässt,  wiePietzsch  und  Haider 
zeigen,  sofort  den  Tannenwald  oder  den 
Laubwald  erkennen.  Die  gleiche  eingehende 
Charakteristik  sollte  auch  dem  Boden,  dem 
Terrain,  auf  dem  die  Bäume  stehen,  zu- 
gewandt werden.  Man  muss  fühlen,  auf 
diesem  Grunde  wachsen  solche  Bäume,  hier 
können  sie  wurzeln  und  gedeihen.  S  t  e  r  n  e  r 
beobachtete  das  Waldinnere  mit  kräftigen 
Buchenstämmen  und  breiten  Laubmassen, 
durch  die  die  Sonnenstrahlen  hindurch- 
dringen. Vinnen  malt  den  Wald  zur 
Frühlingszeit.  Er  zeigt  den  Nadelwald  mit 
prächtigen  gesunden  Fichten  und  Föhren, 
dazwischen  stehen  Laubbäume  mit  dem 
ersten,  sprossenden  Grün  daran.    Den  Boden 


Heniiaiiii  Kaulbach  pliix. 


Copjrrighl  1405  by  Fraai  HaiilslaenKl 


Maiandacht 


l'aLii  Chabas  j}iiiN. 


Phot.  K.  HaiilslicnKl,  München 


Bildnis  des  Fräulein  S.  M. 


DIE  KUNST  UNSEfRER  ZEIT 


243 


bedeckt  grünes  Moos  von  satter  Farbe.  Moderndes  Laub  schiebt  sich  dazwischen.  Es  ist  fetter 
Waldboden,  auf  dem  wohl  so  prächtige  Bäume  gedeihen  mögen.  Hagen  führt  uns  in  den  grünen 
Wald.  Zwischen  den  Stämmen  hindurch  wandeln  wir  auf  laubbestreuten  Wegen,  immer  weiter, 
tiefer  hinein  in  das  geheimnisvolle  grüne  Dunkel.  Der  räumliche  Eindruck,  sozusagen  das 
architektonische  in  dem  Bilde  des  Waldes,  ist  mit  grossem  Geschick  herausgearbeitet.    Die  Freude 


Jozef  Israels.     Das  stille  Mütterchen 


am  Grün,  die  Lust  am  Walde,  die  uns  zur  Sommerszeit  überkommt,  wenn  alles  in  üppiger  Fülle 
prangt,  diese  Wonne  im  Grünen  schildert  Münzer  in  einer  feinabgestimmten  grünen  Symphonie. 
Das  prächtige  Mädchen  im  weissen  Kleide,  von  der  Sonne  beschienen,  ist  so  recht  der  Aus- 
druck fröhlicher  Lebenslust  und  heller  Freude  am  Dasein.  Die  träumerische  Stimmung,  die 
der  Wald  zuweilen  in  uns  erweckt,  besonders  zur  Mittagszeit,  wenn  draussen  die  Sommerhitze 
glostet  und  kein  Windhauch  durch  die  grünen  Blätter  geht,  weht  uns  aus  Erlers  Bild  „Der  grüne 
Heinrich"  an.  In  solchen  Stunden  und  Stimmungen,  die  gegen  Abend  noch  zunehmen  und  an 
Intensität  gewinnen,  da  kann  es  einem  wohl  passieren,  dass  man  im  tiefen  Forst  an  alte 
Mären  und  Wunder  denkt  und,  vom  Halbschlaf  übermannt,  pUUzlich  zwischen  Farrenkräutern 
und  Moosen  unter  seltsamen    Blumen   von  jenen    fabelhaften    kleinen  Wesen    träumt,   die   in   einer 

XVI  36 


244 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


eigenen  Welt  leben  und  die  fern 
von  allem  menschlichen  Getriebe 
hier  aussen  im  Grünen  hausen, 
weit  draussen,  wohin  selten  ein 
menschlicher  Fuss  sich  verirrt. 
Seh  litt  kennt  dieses  kleine 
Volk  gut  und  hat  es  schon  oft 
belauscht.  Auch  Oberländer 
weiss  etwas  von  den  Geistern  des 
Waldes.  Es  ist  eine  richtige  Ge- 
schichte, die  er  uns  in  dem  Bilde, 
der  Zwerg  und  die  beiden  Riesen, 
erzählt.  Der  Text  dazu  heisst:  Es 
waren  einmal  ein  paar  Riesen,  die 
waren  tagsüber  viel  im  Land  her- 
umgelaufen und  hatten  die  Strassen 
unsicher  gemacht,  die  Kaufleute 
angefallen  und  die  Wanderer  um- 
gebracht, und  als  sie  von  all 
diesen  schlimmen  Händeln  müde 
geworden,  legten  sie  sich  am  Abend 
in    den    Wald    unter    eine    grosse 

Eiche.  Der  eine  fasste  sein  Schwert  mit  beiden  Händen,  zog  die  Kniee  an  und  lehnte  sich  mit 
dem  Rücken  an  den  breiten  Stamm.  Der  andere  lehnte  seinen  grossen  Spiess  an  den  Baum  und 
legte  sich  auf  den  Boden.  Bald  fingen  sie  an  zu  schnarchen,  dass  das  Laub  an  dem  Baume 
zitterte  und  sich  die  Äste  und  Zweige  niederbogen.  Dieweil  sass  ein  boshafter  Zwerg,  ein  ganz 
kleinwinziges  Männchen  auf  einem  Ast.  Und  als  er  die  beiden  unter  sich  so  schnarchen  hörte, 
beschloss  er,  ihnen  einen  Schabernack  zu  spielen.  Er  warf  solange  Eicheln  auf  einen  der  Schläfer 
herab,  bis  er  erwachte  und  seinen  Kameraden  anstiess  und  sagte:  „Was  schlägst  Du  mich?"  „Du 
träumst",  sagte  der  andere,  „ich  schlage  Dich  nicht".  Sie  legten  sich  wieder  zum  Schlaf  nieder, 
da  warf  der  Zwerg  von  neuem  seine  Eicheln  herab.  „Was  soll  das?"  rief  der  andere,  „warum 
wirfst  Du  mich?"  „Ich  werfe  Dich  nicht",  antwortete  der  erste  und  brummte.  Sie  zankten  sich 
eine  Weile  herum,  doch  weil  sie  müde  waren,  Hessen  sie's  gut  sein,  und  die  Augen  fielen  ihnen 
wieder  zu.  Der  Zwerg  fing  sein  Spiel  von  neuem  an,  suchte  diesmal  eine  grosse  Eichel  aus  und 
warf  sie  dem  einen  Riesen  auf  die  Nase.  „Das  ist  zu  arg!"  schrie  dieser,  griff  zu  seinem  Schwerte 
und  hieb  auf  den  anderen  los.  Dieser  setzte  sich  auch  zur  Wehr  und  so  schlugen  und  stachen 
beide  in  grenzenloser  Wut  aufeinander,  bis  sie  alle  beide  tot  umsanken.  Das  ist  die  Geschichte 
von    den    beiden    Riesen    und   dem   Zwerge,   so   wie   sie   vor  Jahren   unsere   Grossmutter   erzählt 


Willy  Martens.     Bildnis  der  Gattin  des  Künstlers 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


245 


hat.     Doch   wenden   wir   uns  wieder  der  Betrachtung  der  Aufgaben    und  Motive  der  Landschafts- 
malerei zu. 

Ein  weiteres,  höchst  reizvolles  Motiv  der  Landschaftsmalerei  ist  die  Darstellung  des  Wassers. 
Das  Wasser  ist  der  Spiegel  in  der  Landschaft;  die  wechselnden  Stimmungen  der  Luft,  das  Spiel 
von    Licht    und    Schatten,    das    mannigfache    vegetative    Leben    in    der    Landschaft    kommt    erst 


Karel  Klinkenberg.     Brücke  in  Rotterdam 


durch  diesen  Spiegel  recht  zum  Ausdruck.  Die  schönen  Flussläufe  mit  den  verschiedenartigen 
Uferbildungen,  die  rauschenden  Bäche  und  stillen  Kanäle,  einsame  Weiher,  Altwasser  und  Teiche, 
das  Meer  in  seinen  ewigen  Wechseln,  das  alles  gewährt  dem  Auge  des  Landschaftsmalers  eine 
Welt  von  farbigen  Eindrücken  und  Bildern.  So  lange  es  eine  Landschaftsmalerei  gibt,  spielt  die 
Darstellung  des  Wassers  eine  wichtige  Rolle.  Das  Wasser  an  sich,  als  flüssiges  Element,  das 
Toben,  Schäumen,  Wirbeln,  Wogen  der  Wellen  veranschaulicht  am  besten  Hans  Bartels  durch 
seine  meisterliche  technische  Behandlung.  Die  Meeresruhe  dagegen,  das  dramatische  Moment 
eines  im  Meeressturm  bedrängten  Schiffes,  kommt  in  packenden  Zügen  in  Hans  Petersens 
„Wrack"  zum  Ausdruck.  Im  Gegensatz  zu  Bartels  herrscht  in  Petersens  Bildern  die  dekorative 
Schönheit  vor.     Ein  romantisches  Element   liegt  in  seiner  Kunst  —  etwas  von  der  Stimmung  im 


246 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


fliegenden  Holländer  ist  in  den  beiden  Bildern  „Wrack"  und  „Seenot"  zu  verspüren.  Ein  Stück  Meer 
in  seiner  elementaren  Schönheit  mit  brandenden  Wogen,  weissem  Gischt  auf  den  Wellenkämmen 
und  blauschwarzen  schaurigen  Tiefen  sehen  wir  auf  Sindings  Gemälde  „Lofoten."  Früher,  als 
die  Landschafter  noch    ausser  Landes  gingen,    um  die  malerischen  Reize   ferner  Länder   auf  ihrer 


Paul  Philip  Jtink.    Hochzeit  in  Volendam 


Leinwand  festzuhalten  und  im  Malkasten  mit  nach  Hause  zu  nehmen,  da  standen  die  Besucher 
des  Kunstvereins  mit  stummer  Ehrfurcht  vor  jenen  Bildern,  die  uns  den  Orient,  Italien,  Spanien, 
Algier,  das  Nordkap  und  die  Wunder  der  Eiswelt  näher  brachten.  Dieser  kosmopolitische  Zug 
in  der  Landschaftsmalerei  hat  längst  aufgehört.  Nicht  mehr  um  interessante  Ansichten  und 
Prospekte  handelt  es  sich  jetzt,  sondern  mehr  oder  weniger  um  die  Darstellung  rein  malerischer 
Erscheinungen,  daher  auch  Sindings  Bild  in  erster  Linie  ein  malerisches  Motiv  ist.  Er  malt 
das  Meer,  wie  es  sich  im  Norden  zeigt,  Karl  Boehme  malt  die  Schönheit  des  südlichen  Meeres. 


Karl  Schihit.     Holsteinische  Landschaft 


Rudolf  Schramm-Zittaii.    HUhnerhof 


Willem  Steelink.    Schafmarkt  in  Holland 


Jose  Moreno  Carboneto.    Wallfahrt  nach  Rocio 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


249 


Canal  hat  auch  ein  ganz  bestimmtes  Motiv  im  Auge,  ein  holländisches  Dorf  im  Oktober.  Der 
breite  Wasserspiegel  im  Vordergrund,  die  schilfbestandenen  Ufer,  die  Pappelbäume  und  die  roten 
Dächer  des  Dorfes,  dazu  die  graue,  von  Dünsten  und  Nebel  gesättigte  Luft  ergeben  die  schönsten 


Jacques  E.  Blanche.    Mädchen  in  Sommertoilette 

malerischen  Wirkungen.  Dieses  Bild  will  schon  die  besondere  Stimmung  der  Jahres-  und 
Tageszeit  zum  Ausdruck  bringen ,  die  malerische  Stimmungskraft  der  herbstlich  gefärbten 
Vegetation  im  Einklang  mit  Wasser  und  Luft.  Ganz  prächtig  ist  in  dieser  Hinsicht  ein  Bild 
von  Schönleber,  das  eine  Brücke  in  Viareggio  darstellt.  Das  Wasser,  das  unter  der  Brücke 
hinwegzieht,  erglänzt  in  hellem  Schein.  Das  alte  Gemäuer  der  Brücke  ist  angehaucht  von  der 
Wärme  und  Glut  der  scheidenden  Sonne,  welche  die  mannigfaltigsten  Farben  hervorzaubert, 
dazu  noch  die  verschleierten  Massen  der  Häusergruppen  am  Ufer  und  über  der  dunklen  Silhouette 
der  Brücke  und  der  Häuser  das  Aufleuchten    und  Erlöschen  des  Abendhimmels,     So  einfach  das 


250 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


Erwin  Kurt.    Garbenbinderin  (Gipsmodell) 

Tischen  Ausdruckes  gewahren  wir  in  einigen 
Arbeiten  von  Hermann  Urban.  Das 
Streben  dieses  Malers  verdient,  dass  die 
allgemeine  Aufmerksamkeit  immer  wieder 
darauf  gelenkt  wird.  Urban  geht  ganz 
eigene  Wege,  aber  nicht  um  etwas  Be- 
sonders zu  sein,  eine  Absicht,  die  jeder 
Originalität  in  den  Augen  anderer  nun  ein- 
mal anzuhaften  scheint.  Urban  darf  originell 
sein,  weil  er  dazu  künstlerisch  im  hohen 
Grade  befähigt  ist.  Es  dünkt  ihm  lang- 
weilig, nach  einem  bekannten  Rezept  all- 
jährlich so  und  so  viele  Bilder  zu  malen. 
Er  sieht  in  jedem  Bilde  eine  neue  Aufgabe 
und  ein  neues  Problem.  Mit  seiner  eigen- 
artigen Malweise  gewinnt  er  allen  Dingen 
einen  eigentümlichen  Ausdruck  ab.  Urban 
ist  der  Künstler,  der  in  keinem  Bilde  direkt- 
gemalte Natur  wiedergibt,  sondern  in  seinem 


Motiv  an  sich  ist,  ein  Malerauge  entdeckte  darin  eine 
Welt  von  farbigen  Erscheinungen  und  Wundern.  Zu 
welcher  prächtigen  dekorativen  Wirkung  wusste  auch 
Küstner  einen  einfachen  Vorwurf,  einen  Wasser- 
spiegel mit  einer  Gruppe  von  Pappelbäumen,  um  die 
die  Dämmerung  ihre  schwarzen  Schatten  legte,  zu 
steigern.  Hier  ist  es  mehr  eine  rein  künstlerische 
Absicht,  die  das  Motiv,  wie  sie  es  in  der  Natur  vor- 
findet, umwandelt,  sozusagen  übersetzt,  um  gewisse 
Bild -Wirkungen  zu  erzielen;  dagegen  gibt  Karl 
Schi  1  dt  ein  Stück  Holsteinischer  Landschaft  wie 
einen  unmittelbar  aufgenommenen  Natureindruck 
wieder.  Ganz  ähnlich  auch  Philipp  Roth  in  seiner 
westfälischen  Landschaft.  Eine  ganz  andere  Auf- 
fassung  der   landschaftlichen    Natur   und    des   male- 


A.v<>/<'  ]ii>iiiltiii4.c.     Die  Satanstöchtcr  (Gipgf;ruppe) 


c 
a> 
Xi 

J 

CO 

Q 


W.  BoUKUvreau  pinx. 


CupyrtKiil  )>}  Uiaitii  (Jk-iticiit  4>  C- 


Frühling 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


25  t 


malerischen  Ausdruck  das  Charakteristische  der  Erscheinungen  in  grosszügiger  Weise  festhält. 
Im  Spätsommer  führt  er  in  die  Umgebung  eines  italienischen  Sees  oder  vielmehr  an  die  Küste. 
Im  Vordergrund  ist  es  die  Schönheit  einer  grünen  blumigen  Wiese,  die  wie  von  einem  Wall 
von  Zypressen  umschlossen  wird.  Über  diese  dunkle  grüne  Mauer  schweift  der  Blick  hinaus  auf 
das  blaue  Meer  und    auf   die   ansteigende  Küste  mit   einem    mannigfach  abgestuften  Berggelände. 


Franz  Stuck.     Kämpfende  Faune  (Relief) 

Mit  Genehmijfiiii^i  <tfr  Ftu>toyrit|>liisclien  l'inon  in  Munclipii 


Wie  die  Formation  dieser  Hügel,  die  verschiedenen  Pläne,  sozusagen  das  Architektonische 
des  Terrains  gegeben  sind  und  doch  die  Impression  des  ersten  Eindrucks  gewahrt  wird,  darin 
offenbart  sich  Urbans  Talent  von  seiner  besten  Seite.  Es  ist  eine  Landschaftsmalerei,  die  auf  das 
Wesentliche  der  Erscheinung  ausgeht,  eine  grosszügig  erfasste  Natur,  real  und  ideal  zugleich, 
es  ist  das,  was  man  in  der  Kunst  Stil  nennt.  Vielleicht  erreichen  wir  auf  diesem  Wege  noch 
einmal,  was  Rottmann  bei  seinen  Freskobildern  in  den  Arkaden  vorschwebte.  Wäre  Rottmann 
nur  im  Besitze  dieser  malerischen  Ausdrucksmittel  gewesen,  deren  sich  Urban  mit  souveräner 
Sicherheit  bedient! 

Die  Plastik  hat  auf  der  heurigen  IX.  Internationalen  Ausstellung  im  Glaspalast  eine  ungemein 
reichhaltige  und  glänzende  Vertretung  gefunden.  Über  dreihundert  Werke:  Figuren,  Gruppen,  in 
Stein,  Bronze  oder  Gips  sind  im  Vestibül  und  in  den  verschiedenen  Sälen  aufgestellt.  Wir  sehen 
dramatisch  bewegte,    lyrisch    zartgestimmte,    idyllisch    anmutige,   genrehaft   witzige  Stoffe    in    allen 

XVI  37 


252 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


erdenklichen  Formen  behandelt.  Das  Motiv  spielt  eine  grosse  Rolle.  Für  seine  Bedeutung  in  der 
kirchlichen  Kunst  ist  eine  Arbeit  von  Valentin  Kraus,  „Unsere  Erlösung",  sehr  bezeichnend. 
Hier  ist  es  in  erster  Linie  das  Interesse  am  Gegenstand,  das  uns  anzieht  und  festhält.  Christus 
ist  dargestellt  als  Schmerzensmensch,  auf  dem  Kreuzesstamm  zusammengekauert. 


^ 


'    (i 


'  T^r 


I    I 


Augimt  Hudler.    Dengler  (Bronzierter  Gips) 


Auch  bei  einem  anderen  Werke,  bei  der  Gruppe  „Die  Satanstöchter"  des  Belgiers 
Rombaux,  ist  es  ein  vorwiegend  stoffliches  Interesse  an  dem  rätselvollen  Dasein  dieser  ineinander 
verschlungenen  Körper,  das  uns  zuerst  fesselt.  Die  Gruppe  ist  ausserdem  in  Marmor  komponiert, 
einem  Material,  in  dem  gewisse  malerische  Wirkungen  der  Form  noch  zum  Ausdruck  gebracht 
werden  können,  die  natürlich  im  Gipsmodell  verloren  gehen. 

Die  zwei  folgenden  Arbeiten  zeigen  uns  die  plastische  Kunst  in  ihren  eigentlichen  Wirkungen, 
wenn    sie   auch    in    der  Art   der   Naturanschauung  und    im    Charakter   ihrer  Formgebung  grund- 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


253 


verschieden  sind.  Rodin  hat  in  der  Figur  des  sogenannten  Denicers  ein  Werk  geschaffen,  bei  dem 
er  einmal  mit  etwas  mehr  Sorgfalt,  als  man  bei  ihm  gewöhnt  ist,  Wert  darauf  legt,  die  Totalität 
der  Erscheinung  in  einem  möglichst  einheitlichen  und  geschlossenen  Raumbild  vorzuführen.  Aber 
dennoch    wirkt    die    Formgebung    durch    ziemliche    Übertreibung   im   Detail   nicht  sonderlich  har- 


^ 


Tür 


An!/ifsfr  Rodin.     Der  Denker  (Bronze) 


monisch  und  einheitlich.  Die  Figur  lässt,  obwohl  sie  einen  sitzenden  Mann  in  voller  Ruhe  darstellen 
soll,  in  der  ziemlich  unbequemen  Stellung  jenes  Gefühl  der  Ruhe  vermissen,  das  in  solcher 
Haltung  sonst  im  ganzen  Körper  ausgesprochen  liegt.  Viel  mehr  kommt  dieses  Moment  zum  Ausdruck 
in  der  Figur  „Dengler"  von  August  Hudle r.  Das  Motiv  verhilft  noch  dazu,  diese  Empfin- 
dung zu  verdeutlichen.  Der  Dengler  sitzt  auf  seinem  Dengel-Stock  und  prüft  aufmerksam  die 
Schneide  seiner  Sense.  Er  ist  ganz  bei  der  Sache.  Bei  dieser  Figur  ist  der  Schwerpunkt  der 
ganzen  Erscheinung  innerhalb  ihres  eigenen  Daseins,  in  ihre  eigene  räumliche  Begrenzung  gelegt. 
Sie  stellt  ein   in   sich    ruhendes,    abgeschlossenes   Ganze   dar.      Die   Plastik   findet   in   der  Lösung 


254 


DIE  KUNST  UNSERER  ZEIT 


solcher   Aufgaben    ihre    eigentlichste   Bestimmung    und    ihr    Genügen, 
angewandte    Kunst     auf- 
treten und  als  solche  dem 
Räume     zum    Schmucke 
dienen.      Dies     tut     sie 

z.  B.    in     dem     Relief 
„Kämpfende  Faune"  von 
Stuck.      Dieses     Relief 
wäre  als  Supraporte  über 

einer    Türe     oder     als 
Füllung  in    einen  Kamin 
eingelassen     am     Platze. 

Die  beiden  anderen 
Gruppen  und  Figuren, 
das  reizende  „Rotkäpp- 
chen mit  Wolf"  von  Du II 
und  Pezold  und  die  an- 
mutige „Garbenbinderin" 
von  Erwin  Kurz,  er- 
innern uns  an  die  in 
letzter  Zeit  in  München  ent- 
liegt schliesslich  auch  die  eigentliche  Aufgabe  und  der  besondere  Zweck 


Ilcinricli  Düll  II  11(1  Oeorii  Pezold. 

Rotkäppchen  (Bekrönungsgruppe  des  Wolfsbrunnens 

in  München) 


Sie  kann  aber  auch  als 
standenen  Zierbrunnen, 
in  denen  die  Münchener 
Plastik  als  angewandte 
Kunst  so  überaus  origi- 
nelle und  reizvolle  Werke 
geschaffen  hat.  Die  Rot- 
käppchengruppe krönt 
den  neuen  Brunnen  am 
Kosttor  und  die  Figur  der 
Garbenbinderin  schmückt 
den  erst  kürzlich  voll- 
endeten Brunnen  auf 
dem  Thierschplatze.  Mit 
solchen  Werken  tritt  die 
Plastik  über  den  Rahmen 
der  Ausstellung  hinaus 
in     unsere     unmittelbare 

Umgebung   und   sucht 
Anschluss  an  das  Leben 
der  Gegenwart.  Und  darin 
aller  angewandten  Kunst. 


Valentin  Kraus.     Unsere  Erlösung 
(Marmor) 


i 


N  Die  Rinst  unserer  Zelt 

3 

K86 

Bd.  16 

Halb. 2 


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